Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

49. Wagner und Hedwig Bernold. – Holderbreits Absichten

Wagner kam an diesem Abend spät in sein Bett, denn lange noch ging er in der Nachtkühle unter den rauschenden Palmen ganz allein auf und ab, mit sich und seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Trotzdem aber war er als der erste wieder am nächsten Morgen auf und früh unten beim Residenten, um sich dort nach den Gefangenen zu erkundigen. Klapa war wohlverwahrt und von Wachen umstellt, so daß er an Flucht nicht denken durfte – aber auch der Deserteur hatte einen strengen Gefängniswärter bekommen und lag in einem hitzigen und heftigen Fieber. Erst vor kurzer Zeit aus einer kalten Zone in dieses tropische Klima gebracht, hatte sein mit Früchten und alkoholischen Getränken unmäßig angefüllter Körper dem schädlichen Einfluß nicht widerstehen können, und anstatt ihn für die töricht versuchte Flucht seiner Strafe zu überliefern, mußte man ihn den Händen eines Arztes übergeben, um vor allen Dingen sein Leben zu retten.

Wagners und Lockhaarts Abreise war bis auf neun Uhr verschoben, das Frühstück um acht Uhr bestellt, und als er zurück zum Hotel ging, glaubte er kaum, die Damen schon fertig angezogen zu finden. Um so mehr sah er sich überrascht, als er Hedwig mit ihrer alten Begleiterin unterwegs begegnete, und zwar im Begriff, noch vor dem Frühstück einen kleinen Spaziergang zu machen. Hedwig sah heute morgen viel blasser aus, als er gewohnt war, sie zu finden. Sie hatte dazu augenscheinlich verweinte Augen, wenn sie auch den jungen Mann mit heiterer Miene begrüßte. Die alte Kathrine dagegen war immer die alte, und da sie Wagner vor allen übrigen ins Herz geschlossen hatte, kam sie auch gleich treuherzig auf ihn zu, gab ihm die Hand und sagte: »Gehorsamschten Diener, Herr Wagener – und Sie sind jetzt gerad' recht, daß Sie dem Kind da emal ins Gewisse schwätze, denn mit dene viele Träne macht se sich allsfort das Herze noch schwerer, wie's nötig ist.«

»Es ist schon vorbei«, sagte Hedwig, als sie mit einem wehmütigen Lächeln ihre Hand in die ihr gebotene Rechte Wagners legte, »wir sprachen nur gestern abend von jenem unglücklichen, leichtsinnigen Menschen, an dessen Leben mich fast einmal mein böses Geschick gefesselt hätte. Ich darf Gott danken, daß er mich davor bewahrte; ich wäre doch recht, recht unglücklich geworden!«

»Fürchten Sie nicht, daß er Ihnen noch einmal begegnen werde«, sagte Wagner, um sie zu beruhigen, »er wird von hier nach einer anderen Insel geschafft, wo wenigstens versucht werden soll, ob dieser zerrüttete Geist, der sich und die Welt verloren hat, noch aufzurichten und zu retten ist.«

»Gott möge es denen vergelten, die sich so viel Mühe um das verlorene Leben eines Mitmenschen geben!« sagte Hedwig leise. »Aber ich fürchte nicht, ihm wieder zu begegnen, denn ich bin entschlossen, nach Deutschland zurückzukehren.«

»Sie wollen Java verlassen?« rief Wagner rasch und erschrocken.

»Das is es ja ebe!« rief die Alte, »ich wähs net, was er in den Kopp gestiege is und ob sie das Land hier schon mies hätt; aber ehnd' ich heimginge, wollt' ich doch auch mehr von dem Java gesehen habe – denn so bald komme mer hier nich widder her.«

»Sie wollen fort?« wiederholte Wagner leise und fast nur mit sich selber redend, »fort – fort von Java – und – kennt van Straaten schon die Absicht, die Sie haben?«

»Nein – erst diesen Morgen, oder vielmehr diese Nacht, bin ich zu dem festen Entschluß gekommen«, erwiderte Hedwig mit niedergeschlagenem Blick. »Es ist besser so – gewiß besser, denn so gütig mich van Straatens auf Ihre Veranlassung aufgenommen haben, so kann dies doch nicht auf die Dauer so weitergehen. Sie würden und müßten es einmal satt bekommen, und ich gehe weit lieber, ehe das geschieht, als nachher. Besser einen Monat, ein Jahr zu früh, als eine einzige halbe Stunde zu spät.«

»Aber fürchten Sie um Gottes willen nicht, daß Sie van Straatens je zur Last fallen könnten!« rief Wagner.

»Es ist möglich, daß es nicht so wäre«, erwiderte ruhig das junge Mädchen, »aber ich würde es doch glauben, und der Gedanke allein würde mich unglücklich machen. Ich darf vielleicht deshalb die letzte Bitte an Sie richten, werter Herr Wagner, daß Sie mir in Batavia, so rasch das irgend geht, ein Schiff zur Überfahrt besorgen.«

»Und ist das wirklich Ihr Ernst?« – »Ich gehöre nicht hierher«, sagte Hedwig mit abgewandtem Gesicht, »es ist besser, daß ich wieder gehe, denn in dem Haus meiner lieben Gastfreunde werde ich noch dazu weit über meine Verhältnisse verzogen – verwöhnt. Ich darf es nicht länger annehmen, schon meiner selbst wegen.«

»Und wie froh werden Sie sein, das fremde Java, das Ihnen so manche schmerzliche Stunde bereitete, wieder verlassen zu dürfen!« sagte Wagner, indem er fast unbewußt in eine der stillen Querstraßen Bandongs einbog, die, wie alle Gassen, von niedrigen beschnittenen und blühenden, Gärten umschließenden Hecken gesäumt war.

»Glauben Sie das nicht«, sagte Hedwig leise, »ich habe auch liebe – recht liebe Freunde hier gefunden, an die ich stets mit aufrichtiger Dankbarkeit zurückdenken werde.«

»Und doch hat niemand hier mehr getan als nur versucht, das wieder soviel wie möglich gutzumachen, was man an Ihnen verschuldet hatte.«

»Und ist das nicht schon viel – sehr viel?« seufzte Hedwig. »Du lieber Gott! In der Welt draußen, wie ich sie, so jung ich bin, schon kennengelernt habe, kümmert sich selten der Nachbar um den Nachbarn, ob sein Los glücklich oder elend ist.«

»Sie haben schon bittere Erfahrungen gemacht«, sagte Wagner mit tiefem Mitgefühl.

»Recht bittere«, erwiderte Hedwig schmerzlich, »aber – reden wir nicht davon. Die Zeit liegt hinter mir – die schlimmste wenigstens.«

»Und Sie wollen allein allem wieder begegnen, was Sie noch erwarten könnte?« fuhr Wagner fort, ohne die Bitte zu beachten, »Sie wollen allein wieder in diese fremde, kalte Welt hinaus, aus der Sie schon einmal flüchteten?«

»Nicht allein«, sagte Hedwig herzlich, aber auch von einem wehen, ihr selbst unerklärlichen Gefühl durchzuckt, indem sie die Hand nach ihrer alten Magd ausstreckte. »Meine Kathrine geht mit mir; sie wenigstens wird mich nicht verlassen.«

»Ehnder ging' die Welt auseinanner«, bestätigte Kathrine.

»Die Rebe vertröstet sich auf das Moos«, sagte Wagner schmerzlich, »das allein von ihr gehalten und getragen wird. Die alte Kathrine kann Sie trösten und pflegen, Hedwig; aber ist sie imstande, Sie gegen die Wechselfälle des Lebens zu schützen? Ist sie imstande, Ihnen das alles zu ersetzen, was Sie an Ihrem Vater, was Sie an Ihrer Mutter verloren haben?«

Hedwig sah bestürzt zu ihrem Begleiter auf, dessen Worte lauter, ja leidenschaftlicher als bisher gesprochen wurden.

»Das werde ich selber tun müssen«, seufzte sie endlich leise, »ich bin früh selbständig geworden, vielleicht zu früh, und das ist das einzige Gut, das ich geerbt habe. Ich werde versuchen müssen, den größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen.«

»Dann lassen Sie mich Ihre Stütze sein, Hedwig«, sagte da Wagner herzlich, indem er ihre Hand ergriff, »lassen Sie mich der Baum sein, um den sich die Rebe schlingt, von dem sie getragen und geschützt wird.«

»Herr Wagner!« stammelte Hedwig erschrocken, während die alte Kathrine mit leuchtenden Augen ihre Hände faltete.

»Hedwig«, bat der junge Mann, während tiefes Rot seine offenen Züge färbte, »hier haben Sie eine einfache, herzliche Frage: Wollen Sie meine Frau werden? Ich habe Sie gern gehabt vom ersten Augenblick, als ich Sie sah, und lieber und lieber gewonnen, höher und höher achten gelernt mit jedem Tag, den ich in Ihrer Nähe sein durfte. Vor einigen Tagen schon hätte ich Sie auch um Ihre Hand gebeten, die Sie unbewußt einem Unwürdigen überließen, aber zuerst – ich weiß selber nicht, wie es kam – glaubte ich, der alte Herr Lockhaart habe durch sein derbes, ehrliches Wesen Ihr Herz gewonnen, und da ich Ihnen nicht solchen Reichtum bieten konnte wie er, hielt ich mich zurück. Als Ihnen dann Dorsek begegnete und ich sah, daß ich mich in Ihren Gefühlen gegenüber Lockhaart getäuscht hatte, mußte ich glauben, daß Sie den Mann noch liebten, mit dem Sie einmal verlobt waren. Wie weh mir auch das Herz deswegen tat – ich kann mir keinen Vorwurf machen, irgend etwas versäumt zu haben, um Sie selbst darin zu unterstützen. Aber jetzt sind Sie frei; Dorsek hat sich als Ihrer vollständig unwürdig gezeigt. Sie können ihn nicht mehr lieben, und ein trauriges Los erwartete Sie an seiner Seite. Kehren Sie aber deshalb nicht nach Deutschland zurück, wenigstens jetzt noch nicht – nicht allein. Ich bin nur ein schlichter Mann, mit wenig Poesie vielleicht, aber mit einem treuen, ehrlichen Herzen. Genügt Ihnen das, Hedwig, so schlagen Sie ein – werden Sie meine Frau und nehmen Sie hier mein Wort zum Pfand, daß ich alles – alles tun werde, Sie diesen Schritt nie bereuen zu lassen.«

»Und mich«, stammelte Hedwig unter hervorbrechenden Tränen, »das arme, von allen Seiten zurückgestoßene Mädchen, wollten Sie wählen, der sich seine Braut unter den ersten Familien dieses reichen Landes suchen könnte?«

»Nicht so, Hedwig, nicht so!« rief Wagner. »Seien Sie versichert, daß nur Sie selber und im reichsten Maß die Geberin wären. Vertrauen Sie mir und glauben Sie, daß Sie an meiner Seite dem, was das Leben vielleicht noch für uns aufgespart hat, ruhig begegnen könnten, dann machen Sie mich glücklich mit dem einen kleinen Wörtchen ›ja‹. – Bin ich Ihnen aber vollständig gleichgültig«, setzte er leise hinzu, »fürchten Sie vielleicht, daß auch ich...«

»Nein, nein, nein!« unterbrach ihn da mit tiefem Gefühl das Mädchen, »es wäre unaufrichtig – uns beiden gegenüber – wollte ich Sie jetzt kränken oder zurückstoßen.«

»Und Sie wollen meine Frau werden?«

»Wenn Sie das arme, ganz allein dastehende Mädchen für würdig halten, die Stelle auszufüllen, die eine Bessere einnehmen könnte – ja.«

»Keine Bessere, Hedwig, bei Gott, keine Bessere!« rief Wagner, indem er ihre Hand an seine Lippen hob – »und tausendmal Dank. Jetzt kann ich dir auch sagen, du liebes Mädchen, wie glücklich du mich mit diesem Wort machst. Ich bin dir vielleicht bis jetzt kalt und zurückhaltend vorgekommen, aber niemand weiß, welchen Kampf mich das besonders in der letzten Zeit gekostet hat. Ich wollte mich nicht aufdrängen – du solltest dich nicht durch irgendeinen Dank an mich gebunden glauben, und nur glücklich wollte ich dich wissen, wäre es auch an der Seite eines anderen gewesen.«

»Und hab' ich das alles verdient?« sagte Hedwig, mit einem glücklichen Lächeln zu dem Mann aufschauend.

»Mehr als das – mehr als ich je imstande bin, dir, du armes, liebes Kind, zu bieten.«

»So – das ist recht«, sagte die Kathrine jetzt, der die Freudentränen, nur immer eine hinter der anderen, über die gefurchten Wangen gelaufen waren, »und nu kann die Kathrine gehn – kein Mensch kümmert sich mehr um sie – ihre Zeit ist vorbei, und sie mag die Fieß' jetzt hinsetze, wohin sie will.«

»Kathrine!« rief Hedwig, die alte treue Person fest an sich ziehend.

»Das wäre ja noch schöner«, lächelte aber Wagner, »daß wir die alte wackere Kathrine von uns ließen. Im Gegenteil wird sie jetzt erst recht gebraucht werden, um einem Paar eine Wirtschaft einzurichten, da wahrscheinlich beide nicht viel davon verstehen. Sie müßte denn lieber bei van Straatens bleiben wollen.«

»Ja, ja, schwätze Se nur ins Blaue hinein«, lachte die alte Person, »meine klaane Hedwig weiß, wo ich dehäm hin und bleiwe will, mein ganzes Lebe lang.«

»Und nun nach Haus«, drängte Wagner, indem er den Arm der errötenden Hedwig in seinen zog. »Aber die Erinnerung an diesen Morgen wollen wir uns bewahren; diese Palme hier, mein liebes Herz, war Zeuge der glücklichsten Stunde meines Lebens. Sieh, wie sie ihren glatten Stamm so majestätisch hoch zum Himmel hebt – sieh, wie ihre zierliche, wehende Krone die federartigen Blätter so heimlich und leise schaukelt, als wolle sie uns zunicken. Ein stiller Friede weht um einen solchen herrlichen Baum, und die Erinnerung an diesen hier mag uns mit ihrem freundlichen Bild durchs ganze Leben begleiten.«

»Und ich soll nicht nach Deutschland zurück?« sagte Hedwig leise und lächelnd.

»Gewiß; aber an meiner Seite!« rief Wagner, ihren Arm fester an sich pressend. »Zusammen wollen wir dann das liebe alte Vaterland besuchen, ja uns dort vielleicht wieder unsere neue Heimat gründen, und dann, meine Hedwig, sollen alle die Tränen getrocknet sein, die du dort vielleicht geweint hast.«

»Und dazu wolle der Himmel seinen Sege gebe!« sagte die Alte, während ein recht aus tiefster Brust heraufgeholter Seufzer ihre Brust hob.

Die Straße lag immer noch öde und leer, und nur aus dem dunklen Grün der dichten Frucht- und Blütenbüsche schauten hier und da die niedrigen Bambuswohnungen der Eingeborenen hervor, oder klingelten da oder hier die feinen Schellen, die den kleinen Kindern an einem Drahtring um die Knöchel gelegt werden, damit sie sich nicht so leicht verlaufen können. Aus dem einen oder anderen Haus hatten doch Bewohner die in diesem Distrikt seltenen Weißen bemerkt, und über die Hecken schaute bald auf dieser, bald auf jener Seite ein brauner Kopf und verschwand blitzschnell wieder, sobald ihnen nur die Fremden das Gesicht zudrehten. Wagner aber hatte Hedwig fester an sich gezogen und schritt mit ihr leise plaudernd und Seligkeit im Herzen die Straße hinab, die dem Hotel zuführte. Erst als er dieses in Sicht bekam, ließ er sie wieder frei und sagte lächelnd: »Gönne mir den Spaß, Hedwig, den alten Herrn zu überraschen. Ich weiß, er meint es gut mit uns beiden, denn er ist ein braver, redlicher Mann. Er wird sich freuen, daß wir beide miteinander Glück und Frieden gefunden haben.«

Wenige Minuten später erreichten sie das Hotel, in dem eben die Frühstückstafel gedeckt wurde. Einzelne Malaien trugen die Teller, Messer und Gabeln herein, während andere auf die geschickteste Weise die Servietten zu Blumensträußen, Fasanen und Körben zusammenfalteten. Der alte Herr Lockhaart ging noch allein, mit auf den Rücken gelegten Händen im Zimmer auf und ab; als er die beiden aber eintreten sah, blieb er stehen, schaute Hedwig mit freundlich teilnehmendem, aber auch recht wehmütigem Blick an und sagte. »Seien Sie mir nicht böse, Hedwig, daß ich noch solch tolle Träume hatte, Sie könnten Ihr Glück an der Seite jenes nichtsnutzigen Dorsek finden, an der Seite eines Mannes, der sich selber viel zu tief fallengelassen hat, um Ihrer auch nur mit einem Gedanken würdig zu sein. Ich will es auch gestehen, es war reiner Egoismus von mir, reiner nichtsnutziger Egoismus, der durch sein Glück meinen Frieden gründen sollte und nicht an das Herz dachte, das er darüber vollends ins Unglück stürzen müßte. Das ist jetzt vorbei, aber glauben Sie ja nicht, daß ich Ihnen darum weniger freundlich gesinnt hin, daß ich mich weniger jenes nichtsnutzigen Burschen wegen in Ihrer Schuld glaubte. Herr Wagner hier sei mein Zeuge, daß ich Ihnen hiermit verspreche...«

»Bitte um Verzeihung«, unterbrach ihn Wagner lächelnd, »Sie sind vollständig im Irrtum, denn ich habe etwas versprochen und nehme Sie hiermit zum Zeugen, daß ich dieser jungen Frau von heute an jeden Tag meines Daseins widme.«

»Sie?« sagte Lockhaart und sah verdutzt bald in das lächelnde Gesicht Wagners, bald auf die verlegenen und doch so glücklichen Züge Hedwigs, »Sie – und Hedwig?«

»Ich will versuchen, ihn den Schritt, den er heute getan hat, nie bereuen zu lassen«, flüsterte das junge Mädchen und verbarg, als Wagner sanft seinen Arm um sie legte, ihr Gesicht an seiner Brust.


 << zurück weiter >>