Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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10. Van Roekens fatale Situation

In der Harmonie, dem großen batavischen Gesellschaftslokal, ging es noch lebendig zu, denn während der Tag ausschließlich bei Geschäften gewidmet bleibt, ist der Abend ebenso gewiß dem Vergnügen, der Erholung bestimmt, und ein javanischer Abend endet nie vor zwölf Uhr nachts. Eine große Anzahl von Fuhrwerken hielt auch auf dem großen Platz, da es selbst in der Nachtkühle niemandem einfällt, zu Fuß nach Haus zu gehen. Die Kutscher saßen schlafend auf dem Bock, die Ponys ließen ebenfalls die Ohren und den Kopf hängen und träumten von ihrem Stall, und die »Herrschaft« vergnügte sich in den hell erleuchteten Räumen und dachte weder an Kutscher noch Pferde.

Wagner sprang die hohen steinernen Stufen hinauf, die zu den Gesellschaftssälen führten, und hier und da einen Bekannten grüßend, ging er auf der Suche nach van Roeken langsam durch die inneren Räume. An Spieltischen und Billard vorüber, sah er ihn endlich auf einem bequemen Rohrstuhl ausgestreckt in einer Fensternische eine der heut mit der Mail eingetroffenen Zeitungen durchstudieren.

»Ah, Wagner? Schon aus deiner Gesellschaft zurück?«

»Ja – und nur, um dich aufzufinden«, lautete die Antwort, »ich möchte gern etwas mit dir besprechen. Wir sind aber hier nicht ungestört – bleibst du noch lange da?«

»Ich wollte eben nach Haus.«

»Gut, dann laß unsere Bendis hinterherfahren und uns zu Fuß gehen.«

»Zu Fuß, den ganzen Weg? Was fällt dir ein?«

»Es ist ein wundervoller Abend und kühl wie trocken; der Spaziergang wird uns beiden nicht schaden – oder willst du mich in meine Wohnung begleiten, dann können wir fahren.«

»Nun meinetwegen, so laß uns gehen«, sagte van Roeken aufstehend, »du siehst mir aber so verdammt feierlich aus. Ist etwas vorgefallen?«

»Heute? Nein – doch davon nachher.«

»Apropos, habt ihr das Erdbeben gespürt? Wetter! Der erste war ein starker Stoß, ich habe aber eine Partie Billard dadurch gewonnen. Mein Ball wollte am Loch vorbei, und die Erschütterung warf ihn gerade hinein. Du hättest nur sehen sollen, wie das Volk hier aus dem Saal hinausstürzte. Meine Frau wird wieder eine schöne Angst gehabt haben.«

Van Roeken hatte seinen Hut genommen, und Wagners Arm ergreifend, schlenderte er mit ihm durch die Säle, dem freien Platz zu, wo ihre beiden Kutscher, durch ein bestimmtes Zeichen herangerufen, Befehl erhielten, langsam van Roekens Wohnung zuzufahren. Van Roeken besaß jetzt ein eigenes Haus in der Vorstadt Weltefreden, und Wagner wohnte noch etwas weiter draußen. Die beiden Männer hatten sich ihre Zigarren angezündet und schritten eine Weile schweigend nebeneinander her. Wagner wußte nicht recht, wie er beginnen sollte, und van Roeken, mit einer unbestimmten Ahnung des Zusammenhanges, beeilte sich nicht gerade, ihm zu helfen.

Endlich begann der Deutsche aber doch und sagte: »Höre, Leopold, ich habe heute einen mir höchst fatalen Brief aus Deutschland bekommen, über den es mich eigentlich Überwindung kostet mit dir zu sprechen.«

»Lieber Freund«, sagte van Roeken lachend, »ich habe einen gleichen und wahrscheinlich von derselben Hand erhalten, und meiner kostet mich nicht nur Überwindung, er kostet mich, was viel schlimmer ist, Geld! – Du meinst von Scharner?«

»Ja, allerdings!« rief Wagner. »Jetzt erkläre mir aber auch dein ganzes sonderbares Betragen, weshalb du hinter meinem Rücken an meinen Geschätsfreund schreibst und mir keine Silbe davon sagst – ja, noch mehr, daß du nach Deutschland schreibst und dir eine Frau kommen läßt, und inzwischen, während sie noch nicht einmal Zeit gehabt hat, hier einzutreffen, eine andere heiratest. Was soll jetzt werden?«

»Hm, ja«, brummte van Roeken vor sich hin, »du erinnerst dich doch jenes Abends, an dem wir, etwas fidel, meinen Geburtstag feierten?«

»Allerdings; aber auch du wirst dich wohl erinnern, was ich dir schon damals über deine tolle Idee sagte.«

»Nicht ein Wort«, versicherte van Roeken, »keine Silbe, wahrhaftig nicht! Ich war an dem Abend ein wenig aufgeregt und dachte, gute Vorsätze solle man, wie ein altes Sprichwort lautet, nicht bis zum nächsten Morgen hinausschieben.«

»Und hast an demselben Abend, vom Wein erhitzt, noch einen so wichtigen Brief geschrieben?« rief Wagner, wirklich erstaunt, aus.

»Geschrieben und gesiegelt«, versicherte aber van Roeken, vollkommen ruhig. »Erst wollte ich nach Holland schreiben, da fiel mir aber dein alter, würdiger Freund Scharner ein, von dem du mir so viel erzählt hast. Seine Adresse hatte ich zufällig, da ich ihm damals, als du in Macassar warst, etwas schicken mußte, und so besann ich mich nicht lange und schrieb dorthin. Du hattest mir außerdem immer das häusliche Wesen der deutschen Frauen so sehr gelobt, daß ich glaubte, nichts Besseres tun zu können, als mich von dorther mit einer Lebensgefährtin zu versehen, und da ich die Gewissenhaftigkeit des Alten aus Erfahrung kannte, selbst wenn er uns die unbedeutendsten Sachen besorgte, so glaubte ich auch darin mich auf ihn verlassen zu können.«

»Und trotzdem hast du hier geheiratet? Was soll jetzt werden?« fragte Wagner finster.

»Nun«, lachte van Roeken, »die Sache ist noch immer nicht so schlimm und ein solcher Fall vorgesehen. Ich habe allerdings heute ebenfalls einen Brief von ihm bekommen und daraus ersehen, daß die für mich anfänglich bestimmte Braut unterwegs ist. Natürlich kann ich nicht zwei Frauen nehmen, und Mevrouw van Roeken würde auch keine zweite Frau neben sich dulden – ich möchte wenigstens nicht die zweite sein. Indessen habe ich die junge Dame dadurch vollkommen sichergestellt, daß ich mich verpflichtete, ihr – im Fall eines Hindernisses – die Rückreise und außerdem noch fünftausend Gulden Entschädigung auszuzahlen.«

»Und welchen Begriff hast du dir von einem Wesen gemacht, das du zu deiner Lebensgefährtin haben wolltest, wenn du glauben konntest, sie würde sich, wenn sie abgewiesen wird, augenblicklich und vollständig mit einer gewissen Summe Geldes beruhigen!« rief Wagner erstaunt.

»Aber du siehst doch, daß sie gekommen ist«, meinte van Roeken, der daran noch gar nicht einmal gedacht hatte.

»Allerdings«, sagte Wagner, »aber Scharner hat mir auch den Inhalt deines Briefes mitgeteilt, nach dem ein solcher Fall als höchst unwahrscheinlich bezeichnet wurde und nur für ein unvorhergesehenes Hindernis – ein mögliches Mißfallen vielleicht – gelten sollte.«

»Bah«, sagte van Roeken leichthin, »ein Mädchen, das sich überhaupt entschließt, über See einen wildfremden Menschen zu heiraten, nimmt auch mit fünftausend Gulden vorlieb, und ich kann die Summe leicht entbehren. Mit Mevrouw van Roeken habe ich das hübsche Kapital von hundertzwanzigtausend Gulden hereinbekommen. Fünftausend davon, und mit Her- und Hinfahrt selbst zehntausend gerechnet, bleiben mir immer noch hundertzehntausend, und meine Spekulation war deshalb gar nicht so schlecht. Ich habe wenigstens schon schlechtere gemacht – hoffe es jedenfalls«, setzte er vorsichtig hinzu.

»Und doch hast du dich hier sehr geirrt«, sagte Wagner ernst. »Du hattest allerdings recht, als du Scharner für einen braven und gewissenhaften Mann hieltest, der dir, als meinem Freund und Kompagnon, nur eine tüchtige und deiner würdige Frau empfehlen und senden würde. Aber du hast vollkommen unredlich, ja frevelhaft gehandelt, daß du das arme Mädchen jetzt, hier in einem fremden Land, in eine solche Lage bringst.«

»Aber die fünftausend Gulden!« rief van Roeken, doch verlegen gemacht durch die ernsten Worte. »Sobald sie sich hier nicht wohl fühlt oder nicht hierbleiben will, steht ihr ja nicht das geringste Hindernis im Wege, sich mit jeder nur erdenklichen Bequemlichkeit wieder nach Deutschland einzuschiffen – ja, wenn du es für nötig hältst will ich gern die Summe noch erhöhen und alles tun, was in meinen Kräften steht, sie zufriedenzustellen, und wäre es nur des alten Mannes wegen.«

»Du pochst immer auf dein Geld«, sagte Wagner seufzend, »ich fürchte aber, mit Geld ist die Sache keineswegs so leicht gutgemacht, wie du jetzt noch zu glauben scheinst. Scharner hat an mich geschrieben und mir in seinem Brief einzelne Andeutungen über das junge Mädchen gegeben, das den schweren, sorgenvollen Schritt getan hat, um in einem anderen Weltteil Frieden – und vielleicht häusliches Glück zu finden. Sie scheint aus einer der besten und früher wohlhabendsten Familien des Landes zu stammen und jetzt durch unverschuldetes Unglück gedrückt zu sein, hat sich aber trotzdem doch nur auf sein Zureden und seine Bürgschaft deiner Redlichkeit entschlossen, auszuwandern. Weil er mich von klein auf kennt, weil er weiß, daß wir beide eng befreundet und Teilhaber ein und desselben Geschäftes sind – weil er sich ferner nicht denken konnte, daß du ihm einen solchen Auftrag geben könntest, ohne vorher mit mir darüber ausführlich gesprochen zu haben, also auch meiner Zustimmung gewiß sein mußte, nur aus diesen Gründen hat er ihr, der er das beste und glücklichste Schicksal wünscht und dadurch zu bereiten hoffte, aus voller Seele angeraten, dem Ruf zu folgen. Er kann dabei nicht genug schildern, was für ein liebes, braves Mädchen es ist, wie vortrefflich erzogen, wie gebildet, wie sanft und rechtschaffen sie – eine Waise – in der Welt dort stand. Nun urteile selbst – ein solches Wesen, von allem losgerissen, woran bis jetzt ihre Seele hing, vertrauensvoll einem fremden Weltteil entgegensegelnd, in dem es einen Freund zu finden hofft – ausgestattet dabei mit körperlicher und geistiger Schönheit, also im Übermaß noch die Geberin – ein solches Wesen landet jetzt hier in unserer Stadt, in der jeder Fremde sowieso schon mißtrauisch betrachtet wird, und findet sich, anstatt freundlich aufgenommen, wieder und immer wieder zurückgestoßen in die Welt. Was hilft es ihr, daß die Hand, die sie gerade zurückstößt, voll Gold ist – sie verlangte nicht Gold, sie verlangte ein Herz – sie rief nach Brot, und du gibst ihr einen Stein. Denke dich jetzt in ihre Lage, und sage mir dann, ob du noch glaubst, die ›Sache‹ mit fünftausend Gulden zu aller Zufriedenheit und ohne weitere Gewissensbisse regeln zu können. Und wie steh' ich selber meinem alten wackeren Freund dabei gegenüber, den ich wohl kaum jemals werde überzeugen können, daß ich, bis zu seinem Brief, nicht eine Silbe von der Sache wußte?«


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