Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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5. Traurige Ereignisse und die Folgen

Zwei Monate waren seit dem Tag verflossen, als wir das Haus der Witwe Bernold zum erstenmal betraten, und manches hatte sich in dieser Zeit geändert. Wo Hedwig vor jenem Tag noch in Angst und Kummer der Zukunft entgegengesehen und mit Zittern an den Winter gedacht hatte, der ihren und der Mutter Zustand nur verschlimmern mußte, da war jetzt ein stiller, fast heiliger Friede eingekehrt, und sie war so ruhig geworden, so heiter, wie sie sich nie gefühlt hatte. Und doch hatte sich die Krankheit der Mutter eher verschlimmert, ihre Schwäche zugenommen und ihr Auge den früheren Glanz verloren. Aber Hedwig sah das nicht; das neue ungeahnte Glück der Liebe, das sie beseligte, teilte seinen Rosenschimmer auch allem mit, was sie umgab, und ihre Mutter hütete sich sorgsam, ihr das Herz unnötigerweise schwer zu machen. Wohl fühlte sie, daß ihre Kräfte abnahmen, aber so gut es ging, verheimlichte sie das vor der Tochter, und schien nicht allein heiterer, nein, sie war es wirklich in dem Bewußtsein, ihr einziges geliebtes Kind glücklich und versorgt zurückzulassen. Am Anfang hatten sie freilich die Bewerbungen Dorseks mehr beunruhigt als erfreut; dessen ruhiges, verständiges Benehmen aber, seine immer deutlicher hervortretende Liebe zu Hedwig, sein achtungsvolles, sich stets gleich bleibendes Betragen gegen sie selber beruhigten sie endlich und ließ sie sich an dem Glück ihres Kindes freuen.

Seit dem Konkurs ihres Gatten hatte sie sich von allen Freunden – so viele sie auch früher gehabt haben mochte – zurückgezogen, und diese taten leider nichts, ihr den Schritt zu erschweren. Man hielt es für ganz in der Ordnung, daß die Witwe eines Bankrotteurs nicht mehr mit der Gesellschaft verkehrte, in der sie sich früher bewegte, wäre mit der kranken, noch dazu in gedrückten Verhältnissen lebenden Frau überhaupt ein angenehmer Umgang möglich gewesen.

Der einzige wirkliche Freund, der ihr noch aus früherer Zeit blieb, war der Advokat ihres Mannes, der jetzt zugleich ihren Prozeß führte. Der alte Scharner kam auch dann und wann, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und ihr, wo der nötig war, Trost zuzusprechen. Diesen hatte sie natürlich bei einem so wichtigen Schritt, wie die Verlobung ihrer Tochter war, um Rat gefragt, und Scharner war am Anfang nicht mit dieser Bekanntschaft einverstanden, aber auch nicht imstande gewesen, etwas Erhebliches dagegen einzuwenden. Dorsek galt in der ganzen Stadt, wenn auch nicht für einen reichen, doch wohlhabenden jungen Mann von vielen Fähigkeiten, freilich auch von großem Leichtsinn. Er sollte zeitweise sogar spielen und oft in lustigen, leichtfertigen Gesellschaften gesehen worden sein. Etwas wirklich Böses oder Unrechtes ließ sich ihm aber nicht nachweisen; er hatte nicht einmal Schulden – wenigstens keine solchen, die Scharner erfragen konnte; selbst nicht bei seinem Schneider, bei dem er deshalb extra ein Kleidungsstück bestellte, um Erkundigungen einzuziehen. Daß er früher spielte und leichtfertig lebte, hatte er der Mutter und Hedwig selber offen gestanden, ebenso, daß auch gerade die Reue über dieses Leben ihn fast zum Selbstmord trieb und er nun in einem neuen Dasein die alten Fehler abschütteln wolle wie ein zum Überdruß getragenes Kleid.

Wie gern gab sich Hedwig dem Gedanken hin, ein solches Herz durch ihre Liebe dem Guten wiederzugewinnen; wie stolz war sie in dem Gefühl, daß gerade sie dazu auserwählt sein sollte, den Mann zu retten, dem sie sich mit ganzer erster und ungeteilter Liebe hingegeben hatte. Tag und Nacht dachte sie darüber nach und sorgte sich schon und lebte sich vorher in all die lieben schönen Tage hinein, in denen sie an der Seite ihres Gatten die kleine Wirtschaft besorgen und ihre kranke Mutter pflegen wollte, die ja dann in dem Glück ihrer Kinder auch wieder neu aufleben und sich stärken und erholen würde. Während sie aber die lustigen Pläne baute, hielt die unerbittliche Parze schon die Schere bereit, die eben dieses liebe Leben abtrennen sollte von ihrem geträumten Paradies. Die Mutter war in den letzten Tagen viel schwächer geworden und hatte ihr Bett schon nicht mehr verlassen. Der Arzt, eine jener kalten Geschäftsseelen, die das Menschenleben nur nach Pulsschlägen berechnen und das Konto ruhig abschließen, sobald der letzte ausgeklopft hat, kam jeden Morgen, trat zu der Kranken ans Bett, verordnete die alte Medizin und verließ dann das Zimmer wieder, indem er doch wußte, daß er nicht mehr helfen konnte. Er war heute eben fortgegangen, als der alte Herr Scharner kam und die Frau Bernold zu sprechen verlangte. Hedwig hatte ihn in das Haus kommen sehen und Kathrine ihn gleich zu der Kranken hinaufgeführt. Als das junge Mädchen ihm aber in das obere Zimmer folgen wollte, hielt eine Equipage vor dem Garten, und die junge liebenswürdige Gräfin Orlaska stieg aus, um eine feine Arbeit bei »der Bernold« zu bestellen. Die geschickte Arbeiterin war ihr durch eine Bekannte empfohlen worden, und sie zog es vor, sie lieber selber aufzusuchen als zu sich kommen zu lassen.

Es dauerte wohl eine halbe Stunde, bis alles Nötige dazu besprochen war, und kaum sah sich Hedwig frei, als sie hinauf zur Mutter eilte. Gerade als die Gräfin einstieg und die Straße hinauffuhr, kam Dorsek von der anderen Seite herunter – er erkannte deutlich die Livree und die Apfelschimmel, und als er den Ort erreichte und das Haus betreten wollte, sah er ein reichbesticktes Taschentuch am Boden liegen, das keinem anderen gehören konnte als der jungen Gräfin selber. Dem Wagen nachzuspringen war nicht mehr möglich, und Dorsek stand noch, unschlüssig was er tun solle, mit dem Tuch in der Hand vor dem Garten, als ein markdurchschneidender Schrei aus dem Innern des Hauses drang. Rasch und erschrocken verbarg er das Tuch in seiner Tasche, und durch den Garten und die Treppe hinauf fliegend, stand er wenige Sekunden später auf der Schwelle des Krankenzimmers. Aber ein Blick genügte hier, ihm das Geschehene zu erklären. Still und regungslos lag die Frau auf ihrem Bett, das bleiche Antlitz noch von Schmerzen durchzuckt, und über sie hingeworfen, in Tränen zerfließend, Hedwig – an der Brust ihrer toten Mutter.

Der alte Herr Scharner stand tief bewegt dabei, und die Magd kauerte, ein Bild des Schreckens und Entsetzens, mit gefalteten Händen mitten in der Stube und hielt die großen Augen stier und ängstlich auf die Tote geheftet.

»Hedwig!« rief Dorsek, von Schmerz bewegt, »arme, arme Hedwig!« Aber sie hörte ihn nicht, denn nur das eine sah und fühlte sie in diesem Augenblick – den schweren, unersetzlichen Verlust den sie erlitten hatte.

Scharner ergriff endlich die Hand des jungen Mannes, und ihn leise mit sich hinaus- und die Treppe hinunterführend, sagte er: »Kommen Sie mit mir; lassen Sie dem armen Mädchen Zeit, sich auszuweinen und ihrem Schmerz Luft zu machen. Außerdem habe ich etwas mit Ihnen zu besprechen, das Sie, je eher, desto besser, erfahren müssen.« Dorsek folgte ihm schweigend und wie betäubt, und unten in der Stube angelangt, wo sich der alte Mann erschöpft auf einen Stuhl setzte, begann dieser: »Ich habe es immer gefürchtet, daß sie den Schlag nicht überleben würde, wenn ich auch nicht glauben konnte, daß es sie so rasch und plötzlich träfe – aber sie mußte es wissen, es ließ sich eben nicht länger mehr verheimlichen.«

»Aber was ist geschehen? – Der Prozeß?« rief Dorsek erschrocken.

»Ist verloren«, sagte der alte Mann seufzend, »das Urteil ist allerdings noch nicht gefällt, aber das Recht ist unserem Gegner zugesprochen, sobald er den ihm auferlegten Eid leistet. Dazu hat er sich – was er mit seinem eigenen Gewissen abmachen mag – bereiterklärt, und der Termin zum Schwur ist auf heute in vier Wochen anberaumt. Natürlich schwört er, wie jetzt die Sachen stehen, und Hedwig verliert damit das Letzte, was ihr noch von dem Vermögen ihrer Eltern geblieben war – dieses Haus.«

Dorsek sah still und schweigend vor sich nieder, er erwiderte kein Wort, und Scharner fuhr nach einer kleinen Weile fort: »Sie bekommen eine arme Frau, Herr von Dorsek, und die schönste Zeit unserer Jugend, Ihr Brautstand, wird durch einen noch schwereren Verlust getrübt, durch den Verlust der wackeren Mutter. Um Hedwigs willen beruhigt es mich aber wieder recht sehr, daß sie gerade jetzt in Ihnen eine Stütze gefunden hat, wo sie deren so sehr bedarf. Sie bekommen auch eine brave, tüchtige Frau in ihr; es ist ein Herz, wie Sie es unter Tausenden nicht so rein und edel finden könnten. Seien Sie gut zu ihr, und bewahren Sie sich den Schatz, der Ihren Lebenspfad ebnen und mit Rosen bestreuen kann. Lassen Sie ihr jetzt Zeit sich zu sammeln; der erste Schmerz will Zeit und Raum haben, und unbeobachtet fließen die Tränen am leichtesten.«

»Sie wollen fort?« fuhr Dorsek, der wild vor sich hin gestarrt hatte, auf, als sich der alte Mann von seinem Stuhl erhob.

»Ich will den Arzt hersenden, obgleich menschliche Hilfe hier nicht mehr möglich ist«, sagte Scharner. »Körperliche Mittel konnten der Armen überhaupt nicht helfen; ihr Geist war gebrochen seit dem Unglück ihres Mannes, und so mag sie denn jetzt da oben den Frieden finden, den sie hier unten leider entbehren mußte. Begleiten Sie mich – versuchen Sie jetzt, in dieser Stunde, bei Hedwig keinen Trost. Glauben Sie mir, der beste Trost, der ihr in diesem Augenblick gegeben werden kann, sind ihre Tränen. Gehen Sie dann nach Tisch zu ihr, und Sie werden sie ruhiger und gefaßter finden.«

Dorsek ging wie in einem Traum an der Seite des alten Mannes die Straße hinab – er sah nicht einmal, wie dieser von ihm Abschied nahm und in einen Seitenweg einbog, um das Haus des Arztes zu erreichen. Langsam weitergehend, fand er sich plötzlich mitten in dem Gewühl der großen Stadt, das ihn gewaltsam aus seinem Sinnen aufstörte, denn er rannte ein paarmal gegen Lastträger an, die ohne Rücksicht, wohin sie mit ihren Packen stießen, ihren Weg verfolgten. Ausweichend, sah er sich dicht vor ein paar schnaubenden Pferden, die eben vor einem großen, sehr eleganten Gebäude hielten, und wie ein Schatten schwebte eine weibliche Gestalt an ihm vorüber und verschwand im nächsten Augenblick in dem mit beiden Flügeln aufgeworfenen Tor. Es war die Gräfin Orlaska – er erkannte die Livree der Diener wie die Apfelschimmel –, wohnte sie hier? Fast unwillkürlich tastete er dabei nach dem Tuch in seiner Tasche, und ehe er sich selber irgendeiner bestimmten Absicht klar wurde, hatte er den Bedienten angesprochen und stand auf der Schwelle.

»Wen habe ich die Ehre zu melden?« fragte dieser, dem die elegante Gestalt imponierte. Dorsek gab seine Karte ab, und der Lakai stieg neben ihm, doch etwas zurück, die teppichbelegten Stufen hinauf, führte ihn in einen Salon und bat ihn, dort einen Augenblick Platz zu nehmen. Das Zimmer war sehr reich, aber doch auch wieder einfach und höchst geschmackvoll eingerichtet. Schwere dunkle seidene Vorhänge teilten, während sie vollkommen die Sonne ausschlossen, dem Raum eine angenehme Kühle mit, und reichgeschnitzte, mit dunkelgrünem Samt überzogene Möbel luden zur Ruhe ein. Die Wände waren ebenfalls nicht überladen, aber mit einzelnen wertvollen Ölgemälden neuerer Meister geziert, und den großen Spiegel von venezianischem Glas trugen zwei prachtvoll gearbeitete Statuen aus milchweißem Marmor: ein Amor und eine Psyche.

Ein würziger Duft durchwehte dabei das Zimmer, in das der Lärm der Straße nur als ein dumpfes, unbestimmtes Brausen hereindrang, und Dorsek vergaß, in dem eigenartigen, wunderbaren Gefühl, das ihn anrührte, fast, was ihn hergeführt hatte, wen er hier erwartete. Da öffnete sich plötzlich die ihm gegenüber befindliche Tür, und auf der Schwelle stand, von einem weißen, luftigen Gewand umflossen, ihre rabenschwarzen Locken mit frischen Blumen geschmückt, Heloise, die Gräfin Orlaska.

»Sie haben gewünscht, mich zu sprechen, Baron«, sagte sie mit ihrer weichen, zur Seele dringenden Stimme, aber ehe er etwas darauf erwidern konnte, trat sie rasch und lebhaft auf ihn zu und fuhr lächelnd fort: »Ah, wenn ich mich nicht irre, sind wir alte Bekannte – das unvorsichtige Fahren meines Kutschers hätte Sie wenigstens gleich am ersten Tag meiner Ankunft in Frankfurt beinahe in Gefahr gebracht – oder irre ich mich –, Sie ritten einen Rappen?«

»Gnädigste Gräfin«, stammelte Dorsek, von der ganzen Erscheinung ergriffen, fast verlegen, »allerdings – aber ich weiß nicht...«

»Es war in derselben Straße, in der meine Stickerin wohnt. Sie parierten Ihr Pferd noch glücklich, ehe es mein Wagen streifte.«

»Allerdings – ich erinnere mich«, erwiderte Dorsek, der erst jetzt seine Fassung wiedergewann, »mein Pferd machte mir aber für den Augenblick so viel zu schaffen, daß ich mich nicht einmal umschauen konnte.«

»Ich weiß es – ich sah, wie es erschreckt und unruhig geworden war –, aber Sie hatten es fest im Zügel. Ich war damals sehr böse auf meinen Kutscher.«

»Und doch hatte ich wohl größere Schuld als er«, sagte Dorsek. »Bei den vielen Fuhrwerken in der Straße kann der Kutscher nicht immer Raum geben, während ein einzelnes Pferd leichter zu beherrschen ist.«

»Und was verschafft mir heute die Ehre Ihres Besuchs?« fragte die Gräfin, freundlich auf ein Fauteuil deutend, während sie selber auf einem anderen Platz nahm.

»Der Zufall wollte es«, erwiderte Dorsek, »daß wir uns heute in derselben Straße wieder begegnen sollten und ich so glücklich war, etwas zu finden, das jedenfalls Ihnen gehört.«

»Mein Taschentuch? Ah, in der Tat!« rief die Gräfin erfreut; »dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, Herr Baron, denn es ist ein liebes Andenken von einer Freundin, das ich ungern verloren gegeben hätte – aber ich habe Sie nicht gesehen.«

»Ich kam gerade die Straße herunter, als Sie einstiegen, das Tuch lag auf der Erde, und ich nahm es an mich. Sie müssen freilich die Freiheit, die ich mir genommen habe, entschuldigen, Gräfin, daß ich wage, es selber zu überbringen, aber ich mochte es auch keinem anderen anvertrauen.«

»Ich hin Ihnen deswegen doppelt dankbar, Baron«, lächelte die junge schöne Frau, »da sich mir auf diese Weise Gelegenheit geboten hat, Sie kennenzulernen. Sie wohnen in Frankfurt?«

»Im Augenblick – ja – aber ich gedenke es zu verlassen.«

»Doch hoffentlich nicht so bald, daß ich nicht nochmals das Vergnügen hätte, Sie zu sehen.«

»Sie glauben nicht, Gräfin, wie glücklich Sie mich damit machen würden«, stammelte Dorsek, der sich der Frau gegenüber befangen wie noch nie fühlte, indem er von seinem Stuhl aufstand.

»Ich bedaure, im Augenblick gerade sehr in Anspruch genommen zu sein«, sagte die Gräfin, die seinem Beispiel folgte, »mein Haushofmeister kann noch immer nicht mit seiner Einrichtung fertig werden. Dabei spricht er kein Deutsch, findet sich in nichts zurecht und bringt mich fast zur Verzweiflung. Es ist etwas Schlimmes, wenn man so in eine fremde Stadt kommt und niemanden hat, der einem beistehen kann.«

»Wenn ich imstande wäre, Ihnen in irgend etwas zu dienen«, rief Dorsek, »Sie würden mich glücklich damit machen!«

»Nun, wer weiß, ob ich Sie nicht noch beim Wort nehme«, lächelte die Gräfin, und ihr Blick ruhte freundlich und wohlwollend auf ihm, als er sie mit einer tiefen, ehrfurchtsvollen Verbeugung jetzt verließ.


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