Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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52. Schluß

Zwei Jahre waren seit den zuletzt beschriebenen Vorfällen vergangen, als eines Morgens die Zeil in Frankfurt zwei Männer Arm in Arm hinabschritten, die in ein lebhaftes Gespräch vertieft waren.

»Und so habe ich Sie nun endlich einmal wieder, mein lieber junger Freund«, sagte der Ältere von ihnen, indem er den Arm, den er hielt, fester an sich drückte, »habe ich Sie, wie ich hoffen darf, auf längere Zeit. Sie glauben gar nicht, wie glücklich, wie unendlich glücklich mich Ihr letzter so erfreulicher Brief gemacht hat!«

»Und ermessen Sie danach, mein lieber Scharner, wie glücklich ich selbst geworden bin«, erwiderte der andere in herzlichem Ton. »Hedwig ist eine so liebe, prächtige Frau, und seit ich mit ihr zusammen bin, hab' ich wahrhaftig den Himmel auf Erden gefunden.«

»Ich wußte es; ich wußte es, welch ein Schatz in dem braven Herzen verborgen lag, und danke Gott aus tiefster Seele, daß er in die rechten Hände gekommen ist. Oh, das arme Kind hat hier eine schwere, böse Zeit durchgemacht!«

»Die jetzt hoffentlich für immer in dunkler Vergangenheit liegt«, antwortete fröhlich Wagner. »Alles traf dabei so gut zusammen, daß sich unsere Verhältnisse noch günstiger gestalteten; denn dadurch, daß van Roeken mir die Mitinhaberschaft aufsagte, gewann ich meinen lieben alten Lockhaart zum Teilhaber des Geschäfts, der – eigentlich nur meiner Frau zuliebe – mir die vorteilhaftesten Angebote machte.«

»Aber können Sie dann Java jetzt so lange verlassen?«

»Lockhaart selber kümmert sich allerdings wenig um das Geschäft«, sagte Wagner, »aber wir haben einen anderen Deutschen mit in unsere Firma aufgenommen. Er brachte zwar kein Kapital ein, ist aber sonst ein recht tüchtiger, zuverlässiger Mann, und die Firma heißt jetzt: Wagner, Lockhaart und Nitschke. Einer von uns muß nun einen Teil seiner Zeit in Europa zubringen, da wir mit den hiesigen Fabriken in der lebhaftesten Verbindung stehen und an Ort und Stelle doch viel wirksamer tätig sein können als durch Briefe, und dazu bin ich für das nächste Jahr gewählt oder habe mir vielmehr den Posten ausgebeten. Noch konnte ich Ihnen aber nicht einmal danken, wie vollständig und mit welcher Aufmerksamkeit Sie alle meine Wünsche erfüllt haben.«

»Sind Sie dort gewesen?«

»Soeben. Hedwig wird froh sein, wenn sie es erfährt.«

»Dann weiß sie noch gar nichts davon?«

»Nicht ein Wort. Sie soll damit überrascht werden. Ich gehe eben nach Haus, um sie dorthin abzuholen.«

»Oh, dann lassen Sie mich vorausgehen«, bat Scharner, »lassen Sie mich sie dort an Ort und Stelle im Glück wiederfinden, wo wir so manche schwere Stunde miteinander verlebten.«

»Gut, gut, lieber Scharner; aber dann nehmen Sie eine Droschke, und erlauben Sie der alten Kathrine mitzufahren«, bat Wagner; »es ist vielleicht noch manche Kleinigkeit zu ordnen, und – ich habe sie auch lieber dort draußen, da es meine Hedwig gewiß noch mehr anheimeln wird, wenn ihr die gute Seele auf der alten geliebten Schwelle entgegentritt.«

»Die alte Kathrine«, sagte Scharner und nickte still und lächelnd vor sich hin. »Du lieber Gott, hätt' ich die alte treue Person doch bald in all der Freude und dem Glück vergessen; die alte Kathrine, die drüben in Ostindien gewesen und jetzt nach Frankfurt, in ihre Vaterstadt, zurückgekehrt ist. Die wird erzählen können!«

»Also Sie wollen?«

»Gewiß – gewiß! Freu' ich mich doch selber wie ein Kind auf den Einzug.«

»Hier sind wir an Ort und Stelle – warten Sie nur einen Moment, ich schicke Ihnen die Kathrine gleich herunter. In einer Stunde spätestens sind wir aber draußen –«, und mit raschen Schritten betrat Wagner das Portal des Hotels und sprang die breiten, teppichbelegten Stufen hinauf. Er bog dabei so schnell um die Ecke, daß er jemanden überraschte.

Oben an der Treppe stand ein sehr elegant gekleideter Herr mit dem Rücken ihm zugedreht, hatte eins der hübschen Stubenmädchen um die Taille gefaßt und versuchte ihr einen Kuß zu stehlen. Das Mädchen aber mochte vielleicht den von unten Heraufkommenden schon bemerkt haben, denn sie entwand sich geschickt seinen Händen und floh lachend den Gang hinunter. Der Fremde mußte jetzt wohl ebenfalls die Schritte auf der Treppe hören, denn Wagner war dicht hinter ihm. Er wandte rasch den Kopf und trat dann, ohne sich wieder umzudrehen, in eins der nächsten Zimmer der ersten Etage.

»Wetter noch einmal«, dachte Wagner, »das Gesicht muß ich doch schon irgendwo gesehen haben!« Und er überlegte hin und her, wo er dem Mann schon begegnet sein könnte. Die den Gang hinunterkommende Kathrine ließ ihn aber alles andere rasch wieder vergessen, und mit wenigen Worten kündigte er ihr an, wen sie unten finden würde und was sie zu tun habe.

Im ersten Augenblick wollte Kathrine allerdings vor Freude aufschreien und dann alle möglichen Schwierigkeiten machen, daß sie doch jedenfalls erst eine andere Haube aufsetzen, eine bessere Schürze vorbinden müsse. Wagner ließ aber alle diese Einwände nicht gelten. Nachmittags konnte sie zurückkehren und alles nachholen – jetzt mußte sie gehorchen, und seufzend und kopfschüttelnd fügte sie sich endlich seinem Willen.

Wagner betrat im nächsten Augenblick das Zimmer seiner Frau und fand sich von ihren Armen umschlungen.

»Du böser, böser Mann«, sagte sie dabei. »Erst läßt du mich in Kassel zwei volle Monate allein mit der Kathrine und unserem kleinen Martin im Hotel sitzen, und jetzt gehst du wieder auf drei volle Stunden von mir fort. Oh, laß mich hier in Frankfurt nicht allein – nicht jetzt allein –, nicht die ersten Tage. Du weißt nicht, welch schmerzliche, wehmütige Empfindungen mir hier das Herz erfüllen und mich gegen meinen Willen traurig stimmen. Und doch fühle ich es ja, daß es Sünde sein würde, jetzt zu trauern. – Begleitest du mich nun, wie du es versprochen hast?« setzte sie dann plötzlich mit leiser, bittender Stimme hinzu.

»Gewiß, mein Liebes, deshalb komme ich her!« sagte Wagner herzlich. »Aber daß ich dich heut allein ließ, geschah nur deshalb, um eine freundliche kleine Wohnung für uns zu finden, damit du recht bald von dem ungemütlichen Hotel erlöst würdest. Wir gehen nachher hinüber, um zu sehen, ob du damit zufrieden bist.«

»Und du hast unsern alten Freund Scharner getroffen? Mich wundert, daß mich der alte Mann noch nicht aufgesucht hat.«

»Er war verreist, mein Herz, und ist erst heute morgen zurückgekehrt. Ich traf ihn zufällig auf der Straße, und er wird heute mittag mit uns speisen. Gehen wir jetzt?«

»Ja«, sagte die Frau, und das helle Lächeln schwand im Nu von ihren Lippen, »laß uns gehen! Ihr soll mein erster Gang in dieser lieben Stadt gehören – ich kann sie ja doch nur an ihrem stillen Ruheort besuchen.«

Und mit leisem Finger klopfte sie an die Nachbartür, aus der gleich darauf ein junges malaiisches Mädchen mit einem schlafenden Kind auf dem Arm trat.

»Er ist noch nicht aufgewacht, der kleine Bursch«, lächelte die Mutter, »Sieh nur, wie lieb er die kleinen dicken Fäustchen zusammenballt. Aber komm, laß uns gehen!« Und Hut und Schal anlegend, hing sie sich, von dem Mädchen mit dem Kind gefolgt, an ihres Gatten Arm. Unten hielt eine der Equipagen des Hotels, und der Kutscher, der schon sein Ziel wußte, trieb die Pferde zu einem raschen, lebendigen Trab an. Unterwegs wechselten die Gatten kein Wort – nur dann und wann warf die Mutter einen sorgenden Blick auf das Kind, einen flüchtigen hinaus auf die doch so wohlbekannten Straßen, durch die sie fuhren, aber ihr Herz hatte jetzt nicht mehr Raum für etwas anderes, und als der Wagen an der engen Kirchhofspforte hielt, schritt sie mit klopfenden Pulsen am Arm ihres Gatten den schmalen, von Blumen eingefaßten Weg entlang, der zu der lieben, teuren Stätte führte. Und jetzt zögerte plötzlich ihr Fuß. Sie ließ den Arm los, der sie bis dahin stützte, und stand mit gefalteten Händen neben einem niedrigen Hügel voller Blumen, über den sich eine junge Trauerweide neigte. Kein stolzer Marmor bezeichnete das einfache Grab, keine vergoldeten Buchstaben priesen die Tugenden der darunter schlummernden Toten. Nur ein kleines, niedriges steinernes Kreuz stand am Kopfende des Grabes und trug nichts als die zwei Worte:

Meine Mutter.

Einen Moment stand Hedwig aufrecht neben dem Grab, dann aber verdunkelten sich ihre Blicke. Lindernde Tränen flossen ihr über die Wangen, und das Tuch vor die Augen gepreßt, sank sie an dem Hügel in die Knie und schluchzte leise.

Tief gerührt stand Wagner neben der trauernden Gattin – aber er sprach kein Wort, denn das war kein Schmerz, der Trost verlangte, sondern nur Trost und Linderung in den eigenen Tränen fand. Eine Weile lag Hedwig an der ihr teuren Stätte, dann hob sie langsam den Kopf und blickte lange und liebevoll auf den Hügel, unter dem sie damals alles begrub, was sie auf der Welt noch besaß; dann betete sie still und leise und richtete sich, von dem Gatten unterstützt, wieder auf.

»Komm, mein Herz«, bat da Wagner, »gib dich auch dem Schmerz nicht zu sehr hin. Denke, daß deine Mutter jetzt mit Freuden auf uns herabschauen kann.«

»Ihr Segen hat sich an mir erfüllt«, flüsterte Hedwig, indem sie das Gesicht an der Brust ihres Mannes barg, »er hat mich dich finden lassen – er hat mir unser Kind geschenkt, und ich danke dir hier, an diesem Ort, tausendmal für alles Liebe und Gute, das du mir gegeben hast. Ich kann dir hier sicherlich auch im Namen meiner Mutter danken.«

Wagner hatte seine Frau umarmt und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirn; leise flüsterte er: »Wenn jemand des andern Schuldner ist, meine Hedwig, dann bin wahrhaftig ich es, da ich dir ein Glück verdanke, das ich in früheren Jahren kaum für möglich hielt. Aber sieh – der kleine Bursche ist erwacht. Wie freundlich er zu dir herüberschaut.«

Die Mutter drehte sich rasch zu dem Kind um, und wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, nahm sie es von dem Arm der Wärterin, küßte es und kniete mit ihm am Grab nieder. Der Kleine aber langte hinüber nach den bunten Blumen, und einen Resedazweig erfassend, der ihm zwischen die Fingerchen kam, schloß er die kleine Faust und pflückte ihn ab.

»Ein Gruß der Mutter!« rief die junge Frau, und ihre Tränen flossen wieder stärker, »das waren stets ihre Lieblingsblumen«, und fest und innig drückte sie das Kind an ihr Herz und küßte den kleinen Zweig, den es noch in seinem Händchen hielt. Dann aber gab sie den Kleinen dem Mädchen zurück.

»Jetzt komm«, sagte sie unter Tränen lächelnd zu dem Gatten, »komm nur, Reinhard; jetzt ist mir wohl, und ich will dir nicht auch noch das Herz schwer machen. Kann ich den lieben Platz doch jetzt auch öfter sehen.«


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