Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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Lockhaart drehte sich überrascht und schnell zu seinem Nachbarn um und sah ihm eine Weile starr in die Augen. Er hatte keinenfalls die Frage gleich verstanden und, als er sie endlich verstand, wahrscheinlich böse werden wollen. Aber wie eine Wolke an der Sonne vorbei, so glitt der Unmut über seine Stirn, und mit einem wehmütigen Lächeln sich zurück in die Wagenecke lehnend, sagte er, langsam den Kopf dazu schüttelnd: »Nein, Wagenaar; die Zeiten sind vorüber, in denen es mich selber drängte eine eigene Familie zu gründen. Gott verzeih es den Menschen, die es aus bösem Willen hintertrieben und mir mein Leben damit verbittert und verdorben haben. Doch die Jahre sind nicht zurückzubringen, und ich bin nicht Tor genug zu glauben, daß ich mit meiner Ruine von einem Körper, dazu mit einem gereizten, verwöhnten Temperament, einem Wesen genügen könnte, das eben voll ins Leben schaut und berechtigt ist, Gottes schönste und reichste Gaben für sich zu beanspruchen.«

»So glauben Sie, daß sie Ihren Neffen noch liebt?«

»Ich halte es nicht für wahrscheinlich«, seufzte Lockhaart, »aber das Menschenherz ist ein sehr seltsames, unzuverlässiges Ding, und wo Gott segnen will, soll der Mensch nicht fluchen.«

»Und was gedenken Sie da jetzt zu tun?« fragte Wagner.

»Zum Donnerwetter, Herr!« fuhr jetzt der alte Mann auf, der sich gewaltsam zusammenraffte, die trübe Stimmung zu bewältigen, »dazu habe ich mir Ihre Gesellschaft nicht ausgebeten, daß Sie mich ausfragen und dazu mit dem Kopf nicken oder schütteln sollen. Ihren eigenen Rat will ich haben, Ihre eigene Meinung. »Was fängt man am besten mit einem gemeinen Soldaten an?«

»Wie ist er es geworden?«

»Einzig und allein jedenfalls, weil er mit dem Tollkopf durch irgendeine Wand fahren wollte und diese für die härteste hielt. Aber vom Soldatenstand wäre er doch vielleicht noch loszumachen, wenn man einen tüchtigen Ersatzmann für ihn stellt, und nur das ist jetzt die Frage: was dann?«

»Die beantwortet Ihnen vielleicht am besten ein gleiches Subjekt«, sagte Wagner ruhig, »das ich vor wenigen Wochen aus Schmutz und Unrat wie aus allen Lastern herausgezogen und in mein Kontor genommen habe. Der Mensch wäre, wenn er noch ein paar Wochen so fortgelebt hätte, total verloren gewesen, und ist jetzt einer meiner besten Arbeiter, der sich, obwohl er kein Vermögen besitzt, sein rechtschaffenes Fortkommen und vielleicht noch mehr hier in Java gründen kann.«

»Und Sie meinen wirklich, daß dem Jungen noch geholfen werden könnte?« sagte Lockhaart bewegt, Wagners Hand ergreifend. »Sie glauben, daß er vielleicht doch noch zu retten wäre?«

»Durch andere Hilfe nicht«, entgegnete Wagner ernst, »es muß durch seine eigene geschehen. Wir können ihn nur auf den richtigen Pfad bringen, auf dem er, wenn er ihm folgt, ein verfehltes Leben hinter sich werfen und ein neues beginnen mag. Will er aber absolut wieder davon abspringen – wer kann ihn halten?«

»Aber wo fände man jemanden hier auf der ganzen Insel, der einen gemeinen Soldaten in sein Geschäft nähme, nur um den Versuch einmal mit ihm zu machen?«

»Ich selber will es tun«, sagte Wagner leise. »Van Roeken wird sich vielleicht am Anfang dagegen sträuben, aber zuletzt fügen, und was in meinen Kräften steht, ihn sich selber wiederzugeben, soll geschehen.«

Lockhaart ergriff seine Hand, und ihm eine Weile fest ins Auge sehend, drückte er sie in der seinen – aber er sprach kein Wort weiter, und wohl eine Stunde lang fuhren die beiden Männer, jeder mit sich und seinen eigenen Gedanken beschäftigt, still nebeneinander dahin, und unbeachtet lag an beiden Seiten ihres Weges die reizendste, wundervollste Landschaft, die je vom Sonnenlicht beschienen worden war. So passierten sie eine Poststation nach der andern – es war keine Vergnügungs-, es war eine Kurierfahrt, die sie zusammen machten, als ob ihr Leben davon abgehangen hätte, zu einer bestimmten Stunde in Bandong zu sein, und doch beachtete keiner von ihnen den Weg oder wo sie sich befanden, wenn sie eintreffen würden. Nur die rasche Bewegung tat ihnen wohl; der scharfe Luftzug, der ihre Schläfen und Wangen kühlte, erfrischte sie und schien nach und nach die trüben Gedanken, denen beide wohl nachhingen, zu zerstreuen, wenigstens zu mildern.

Der alte Herr faßte sich zuerst wieder; er war eine jener kräftigen, gesunden Naturen, denen das Grübeln und Brüten auf die Länge der Zeit widersteht, und die, wenn sie einmal zu einem Entschluß gekommen sind, nun auch eisern daran festhalten, das übrige eben der Zeit und dem Schicksal überlassend. Sein nächstes Ziel – denn alles andere mußte eben verschoben werden, bis er zurückkam – lag in Bandong oder dessen Nachbarschaft, und er wandte sich plötzlich mit der Frage an Wagner, ob er jenen Klapa wohl wiedererkennen würde, wenn er ihnen begegnete.

»Ich denke ja«, sagte Wagner; »allerdings hab' ich ihn neulich nur sehr kurze Zeit gesehen, ja es war eigentlich kaum mehr als ein Moment, aber der Bursche hat so markante Züge, daß ich ihn doch unter einer Anzahl von Bergbewohnern herausfinden wollte.«

»Gut! Sehr gut!« sagte Lockhaart; »vielleicht ist es nicht einmal nötig, und wir finden andere sichere Zeichen, an denen wir ihn erkennen können, doch – besser ist besser.«

»Nun aber sagen Sie mir auch, mein lieber Herr Lockhaart«, fragte ihn Wagner jetzt, »welches Interesse haben Sie selber daran, diesen Heffken zu entlarven oder jenen Javaner zur Strecke zu bringen, daß Sie Ihre Zeit und Ihr Geld opfern, ihnen hier in den Bergen nachzuspüren? Ich selber würde mich natürlich von Herzen darüber freuen, wenn wir ein günstiges Resultat erzielten, schon meines armen Nitschke wegen, den dieser schurkische Buchhalter auf wirklich nichtswürdige Weise behandelt und gekränkt hat; aber ehe ich selber auf einen derartigen Zug verfallen wäre, hätte ich es doch lieber der Zeit überlassen, jenen Patron zur Strecke zu bringen. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und einmal wird er sich doch schon fangen, wenn er wirklich schuldig ist.«

»Wirklich schuldig?« wiederholte Lockhaart, sich zu Wagner drehend. »Ich hoffe nicht sicherer selig zu werden, als ich weiß, daß jener Mensch ein nichtswürdiger Halunke, ein Dieb und Betrüger ist.«

»Aber weshalb haben Sie ihn dann nicht schon lange angezeigt?«

»Weil mir noch die entscheidenden Beweise, weil mir Zeugen fehlen; denn seien Sie versichert, Wagenaar, der Bursche ist so schlau und gewandt, so mit allen Hunden gehetzt und mit allen Hintertüren bekannt, die ihm das Gesetz gestattet, daß man einen festeren Griff an ihm haben muß, als wir bis jetzt hatten, wenn wir ihn auch wirklich halten wollen. Übrigens ist sein Maß voll und übervoll. Er hat mich nicht allein, als er noch in meinem Geschäft war, betrogen und hintergangen, das möchte ihm verziehen sein; nein, er brachte auch später, als er schon bei der Maatchappey angestellt war und eine ganz ähnliche Geschichte mit einer Prau vorfiel, wie hier neulich wieder vorgefallen sein soll, einen jungen, prächtigen Burschen, den ich adoptiert und in die Maatchappey gegeben hatte, um dort das Geschäft zu lernen, dermaßen in diese faule Geschichte hinein, daß es fast aussah, als hätte der blutjunge, ehrliche Mensch einen raffinierten Plan dabei verfolgt, bedeutende Unterschlagungen zu machen. Ich stellte natürlich gleich Kaution für den jungen Mann, und er kam frei, aber das Unrecht, das ihm durch den Verdacht geschehen war, nagte ihm an der Seele. Er legte sich hin, bekam ein hitziges Fieber und starb an demselben Morgen, als er vom Gericht ehrenvoll freigesprochen wurde. Seit der Zeit habe ich diesen Heffken gehaßt wie meinen Todfeind. Anstatt aber meine Feindschaft zu fürchten, hat der Bursche neulich einen Schritt bei mir getan, der das Unerhörteste von Frechheit ist, was sich denken läßt: Er hat bei mir, wie Sie wissen, um Fräulein Bernolds Hand angehalten, und ich mußte mich damals sehr zusammennehmen, daß ich ihm nicht an die Kehle fuhr. Von dem Augenblick an aber hab' ich es ihm fest und heilig zugeschworen, daß ich ihm diese Unverschämtheit heimzahlen will, sobald ich nur irgendeine Gelegenheit dazu bekomme, und wenn uns das Glück wohl will, liefert uns die der letzte Kasseneinbruch, bei dem er jedenfalls die Hand mit im Spiel hat.«

»Und haben Sie eine Ahnung, wo ungefähr jener Klapa stecken kann?«

»Ja, sonst würde ich den Zug nicht unternommen haben; aber es ist ein wilder, böser Distrikt, durch den nur einige den Eingeborenen bekannte Pfade führen. Wir müssen außerordentlich vorsichtig zu Werke gehen, um die Richtigen zu finden, die uns dazu nützen können, und die übrigen nicht vor der Zeit mißtrauisch zu machen.«

»Und nach welcher Richtung zu ist etwa, die Stelle?«

»Hinter dem Boerangang in der Provinz Krawang, gleich links hinter dem Tancuban prau hinab. Dorthin soll er sich wenigstens jetzt verzogen haben, aber ich weiß natürlich nicht, ob er sich dort länger aufzuhalten gedenkt. Der Platz ist übrigens so ausgesucht wild und versteckt, daß er ihn sich kaum besser hätte wählen können.«

»Und wo wollen Sie nähere Auskunft erhalten?«

»Auf der Kaffeeplantage in Lembang hat er einen Vetter, aber die beiden sind seit Jahresfrist etwas verfeindet, so daß es fraglich ist, ob er diesen von seinem Aufenthalt in Kenntnis gesetzt hat. Haben sie sich aber ausgesöhnt, dann wird er den wahrscheinlich dazu gebrauchen, nötige Lebensmittel aus besiedelten Distrikten für ihn zu beschaffen.«

»Und das ist die ganze Spur, die Sie haben?« sagte Wagner kopfschüttelnd. »Dann sieht es freilich schlimm aus, und Klapa ist ein zu durchtriebener Bursche, als daß er sich in einem so weitmaschigen Netz finge. Ob er sich mit seinem Vetter ausgesöhnt hat oder nicht, verraten wird ihn der auf keinen Fall.«

»Noch hab' ich eine andere Hoffnung – ich kenne die Sitten dieser Burschen ziemlich genau und spreche auch ihren javanischen DialektDie eigentliche javanische Sprache der Eingeborenen unterscheidet sich sehr von dem, was die Malaien an der Küste und im flachen Land sprechen. Überhaupt besteht auf Java dasselbe Verhältnis wie auf fast allen Inseln des Ostindischen Archipels, daß nämlich ein ganz anderes Volk die Küsten bewohnt als das innere bergige Land. Die Malaien (keineswegs eine eigene und besondere Menschenrasse, sondern Abkömmlinge der kaukasischen und mongolischen) waren und sind ein seefahrendes Volk, und sie haben fast alle Inseln mit ihren Nachkommen überschwemmt. Aber nur an den Küsten konnten sie festen Fuß fassen, und die in das Hochland der Inseln abgedrängten Bergbewohner bewahrten sich dort ihre Unabhängigkeit und trieben die Eroberer zurück. So blieb auch die Sprache geschieden, und während an allen Küsten des Ostindischen Archipels Malaiisch gesprochen wird, behielt jede Insel in den Bergen ihr eigenes Idiom. Die eigentümliche Bergsprache dieses Teils heißt aber nicht Javanisch, sondern Sunda und unterscheidet sich wesentlich von der malaiischen Sprache. Überhaupt wird die ganze Insel von den Eingeborenen keineswegs Java oder Djawa genannt, sondern nur ihre östliche Hälfte. Die westliche Hälfte heißt Sunda, und nach ihr hat auch der bei Java vorbeifließende Meeresarm den Namen Sundastraße bekommen. , verstehe ihn wenigstens vollkommen gut, was bei Europäern nur höchst selten der Fall ist. Möglich, daß ich dadurch, wenn ich mit ihnen in ihren Bergen und dort in der Nachbarschaft jage, manches herausbekomme, was sie untereinander plaudern. Apropos, Wagenaar, sind Sie Jäger?«

»Jäger? Nein, wenigstens nicht, was man eigentlich Jäger nennt. Ich kann ein Gewehr abdrücken und treffe auch wohl ein Stück Wild, aber ich habe nicht die geringste Passion dafür, und es würde mir gar nicht einfallen, irgendwo große Strapazen zu ertragen oder mir irgendeine Entbehrung aufzuerlegen, nur um einen Hirsch zu schießen.«

»Hm – so? Nun, vielleicht schleppe ich Sie trotzdem einmal mit mir in die Berge.«

»Dort werde ich Ihnen wenig nützen«, lachte Wagner, »überhaupt erwarte ich sehr wenig von unserer ganzen Fahrt und glaube fast, daß Nitschke zu Haus mit seinen einfachen, aber zähen Nachforschungen mehr ausrichtet als wir hier alle miteinander.«

»Ich habe auch nichts versäumt, was uns dort helfen könnte«, erwiderte Lockhaart, »und bin besonders in der letzten Woche damit beschäftigt gewesen, eine genaue statistische Tabelle von all den Leuten zusammenzustellen, die mit Heffken gearbeitet haben. Manche davon sind freilich schon tot, andere wieder nach Europa hinübergegangen, viele aber leben noch hier auf Java, einige sogar gegenwärtig ohne Beschäftigung, und es ist höchst interessant, die Laufbahn mehrerer dieser Leute zu verfolgen. Heffkens genaue Biographie, seitdem er in Ostindien ist – soviel wenigstens der Öffentlichkeit davon bekannt geworden ist – habe ich natürlich auch, und zwar so genau wie irgend möglich.«

»Gut! Wer weiß, wie wir das später einmal brauchen können, aber eine solche Fahrt rechtfertigt es deshalb noch immer nicht. Wir tappen eben ins Blaue hinein und sind hauptsächlich der Gefahr ausgesetzt, daß Klapa von unseren Absichten erfährt und die ganze Gegend verläßt, ehe wir nur eine Ahnung davon haben, wo er eigentlich steckt. Aber dort liegt Bandong, eine wahre Perle in diesem von Bergen eingeschlossenen Kessel – die Burschen müssen auf Mord und Tod gefahren sein, denn die Sonne ist kaum hinter den Gipfeln verschwunden.«

»Es sind kurze Stationen, und die vier Pferde laufen mit dem leichten Wagen rasch davon – auch hatt' ich, glaub' ich, den Leuten befohlen, ihr Äußerstes zu tun. Es ist ermüdend, so lange auf der Straße zu liegen.«

»Aber in so freundlicher Gegend?«

»Chaussee bleibt Chaussee, und wenn sie durch ein Paradies führte – man gäbe dem Postillon gern ein Trinkgeld, um nur rasch hindurch zu kommen.«

»Ich glaube, das Tor ist schon geschlossen?«

»Nein, sie sind aber wohl eben dabei. He! Holla! – Oh, sie haben uns schon gehört, und nun eine gute Mahlzeit. Ich habe das Fahren heute herzlich sattbekommen, und Mevrouw Splittenhout führt eine delikate Küche.«


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