Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Herr Nitschke wird vorgestellt. – Mynheer van Roeken faßt einen Entschluß

»Thomas Nitschke ist jedenfalls früher in Deutschland ein ganz wohlhabender, wohl auch reicher Mann gewesen, der aber, vielleicht schon dort durch liederliches Leben, ruiniert wurde und, noch immer mit einem kleinen Vermögen, nach Indien kam, um hier ein neues Leben zu beginnen. Ich erinnere mich der Zeit noch recht gut; er war damals ein anständiger, immer sehr elegant gekleideter junger Mann, der mit den besten Empfehlungen herüberkam, ohne Schwierigkeit zwei Bürgen fand, die für ihn gutsagten, und sich jahrelang wacker aufführte.

Natürlich war er in ein Geschäft eingetreten, denn das Geld, das er mitgebracht hatte, reichte nicht aus, um selber etwas Ordentliches zu beginnen, und mit einem ziemlich guten Salär lebte er dabei behaglich, ohne indessen den geringsten Aufwand zu machen. Wie schon gesagt, ging das eine Weile vortrefflich; er hatte sich tüchtig eingewöhnt und galt für einen ausgezeichneten Arbeiter – aber der in ihm steckende Kobold ließ ihn nicht ruhen. Er fing an zu trinken – der erste Beginn allen Jammers in Indien –, wurde aus dem Geschäft, vorgefallener Nachlässigkeiten wegen, entlassen, lebte von seinem Geld, verlebte es und machte endlich Schulden.

Kuhn – einer der beiden, die für ihn gutgesagt hatten – ließ ihn, nachdem er es eine Weile so trieb, zu sich kommen, hielt ihm sein Unrecht und die Gefahr, der er sich aussetzte, vor und nahm ihn in sein eigenes Haus draußen vor Batavia auf. Dort sollte er seine Leute beaufsichtigen und seine Bücher führen. Er hatte ihn also als eine Art Verwalter angestellt, so daß er neben sehr gutem Gehalt auch ein fast unabhängiges Leben führte und sich noch hätte mit leichter Mühe Geld ersparen und zurücklegen können. Eine Weile hielt er auch aus, und es schien, als ob er sich wirklich von Grund auf gebessert habe, aber – es dauerte nicht lange; das ruhige, gleichmäßige Leben sagte ihm auf die Dauer nicht zu. Er fing damit an, sich unter der Hand Arrak zu verschaffen, vernachlässigte dann natürlich das, was ihm oblag, und trieb es zuletzt so arg, daß ihn Kuhn, nachdem alle Vorhaltungen, ja selbst Drohungen vergebens gewesen waren, eines schönen Morgens mit Sack und Pack vor die Tür setzte und ihm ankündigte, daß er seine Schwelle nicht wieder betreten dürfe.

Nitschke trieb sich jetzt wieder eine Weile in einem dolce far niente in der Stadt umher, verliebte sich in ein paar malaiische Mädchen und lebte herrlich und in Freuden, solange die paar verdienten Gulden ausreichten, was in Batavia bekanntlich nur sehr kurze Zeit dauert. Sobald sein Geld aber abnahm, zog er sich in die Wohnungen der Eingeborenen zurück, mit denen er verkehrte und von denen er benutzt wurde, solange sie hoffen durften, noch irgend etwas aus ihm herauszuziehen. So sank er tiefer und tiefer, bis er endlich, von allen Hilfsmitteln entblößt, nicht weiter konnte und nun in Verzweiflung wieder zu seinem früheren Prinzipal ging, diesem seine trost- und hoffnungslose Lage darstellte und ihn bat, ihn wieder bei sich aufzunehmen, denn er habe von ihm jetzt keinen Rückfall weiter zu befürchten. Kuhn, ein gutmütiger Mann, freute sich über Nitschkes Reue, glaubte ihm auf sein Wort, stattete ihn vor allen Dingen mit Kleidern und Wäsche aus, daß er wenigstens reinlich und anständig erscheinen könne, und ließ ihn ohne weiteres wieder in seinen früheren Posten eintreten. Hat man aber einmal ein solch liederliches Leben begonnen, so gehört ein wirklich eiserner Entschluß dazu, sich vollkommen davon freizumachen. So bekam dann auch Nitschke einen Rückfall, wurde wieder fortgeschickt und kam noch weit tiefer herunter als das erste Mal. Kuhn hatte sich diesmal aber fest vorgenommen, nichts weiter mit ihm zu tun zu haben und lieber seine Passage auf einem heimwärts gehenden Schiff zu zahlen, als ihn wieder zu sich ins Haus zu nehmen.

Nitschke schien auch selber am Anfang nicht die geringste Lust zu haben, wiederzukommen; das gebundene, solide Leben sagte ihm nicht im mindesten zu. Er lebte nun wieder auf eine wirklich unbegreifliche Weise in den Tag hinein, Gesundheit wie Kasse untergrabend, bis er endlich doch den Einfluß der starken, in dem heißen Klima so schädlichen Getränke unterlag und in das Hospital geschafft werden mußte, um wenigstens nicht auf offener Straße zu sterben. Aber er starb nicht. Einzelne Naturen haben, allem diesen unnatürlichen, wilden Leben zum Trotz, eine unverwüstliche Elastizität und sind gar nicht zu ruinieren. Wenn auch von den Auswirkungen seiner Krankheit furchtbar aufgerieben, fing er doch an, sich wieder zu erholen. Der körperlichen Rekonvaleszenz folgte hier, in dem vortrefflich eingerichteten Spital und von allen spirituosen Getränken ferngehalten, eine geistige, und zerknirscht über sein bisheriges Leben, bat er seinen früheren Prinzipal noch einmal um Verzeihung für vergangene Sünden. Am Anfang wollte der freilich nichts davon wissen; wer konnte ihm die wirkliche Besserung des liederlichen Burschen garantieren, und sollte er sich selber den Tod in einem verzweifelten und doch nutzlosen Versuch an den Hals ärgern, aus dem einmal verlotterten Menschen wieder einen braven und ordentlichen Mann zu machen? Sein gutes Herz siegte aber trotzdem wieder. Als er ihn bleich und elend im Spital sah, wo er ihn besuchte, tat er ihm doch leid, und er beschloß endlich, ihn, freilich unter viel strengeren Bedingungen als bisher, nochmal in sein Haus aufzunehmen. Er hätte vorher wissen können, daß es nutzlos war. Im Hospital hatte Nitschke also, wie bemerkt, dem Genuß spirituöser Getränke vollkommen entsagen müssen und war dadurch wohl viel ordentlicher, doch auch schwach und matt und hinfällig geworden; aber auch jetzt untersagte ihm sowohl der Arzt den Alkohol, damit er sich dessen schädlichem Einfluß nur erst einmal gänzlich entzöge, wie auch Kuhn selber, der ihm versicherte, er würde bei ihm keinen Tropfen Branntwein über die Zunge bekommen. Nitschke erklärte sich mit allem einverstanden und betrug sich musterhaft. Sein Körper war aber so heruntergekommen, daß er wirklich Monate bedurfte, um sich nur einigermaßen zu erholen, und selbst dann ging er mehr einem Skelett als einem lebenden Menschen ähnlich umher.

In dieser Zeit war es, daß ein Brief an ihn aus Europa, ich glaube von seiner Schwester, kam, die von seinen Ausschweifungen und dem entsetzlichen Leben, das er führte, gehört hatte und ihm nun die bittersten, aber auch zärtlichsten Vorwürfe darüber machte, ihm die furchtbaren Folgen eines solchen Lebens vorhielt und ihn bei allem, was ihnen beiden heilig war, beschwor, sich zu bessern und ein anderer Mensch zu werden. Nitschke las den Brief mit wirklich tiefer Zerknirschung; dabei noch zusätzlich aufgeregt in seiner Schwäche, weinte und jammerte er und betrug sich so auffallend, daß eine der malaiischen Frauen zu Kuhn lief und ihm sagte, sie fürchte, der Weiße tue sich ein Leid an; er möchte einmal zu ihm hinübergehen. Kuhn, der an einen Selbstmord bei Nitschke nicht so recht glauben mochte, schüttelte den Kopf und ließ ihn endlich zu sich herüberrufen.

›Was machen Sie denn für dumme Streiche?‹ redete er ihn an. ›Was ist denn nun wieder vorgegangen? Sie bringen mir ja das ganze Haus in Alarm.‹

›Herr Kuhn!‹ rief Nitschke, bei dem das weiche Element wieder die Oberhand gewann, ›ich bin ein nichtsnutziger, erbärmlicher Kerl.‹

›Nun ja, das wissen wir ja schon alle hier im Haus, das brauchen Sie doch nicht mehr mit einem solchen Skandal in die Welt hinauszuschreien‹, sagte Kuhn.

›Ich bin ein Lump!‹ brach Nitschke aus.

›Niemand zweifelt daran‹, setzte Kuhn hinzu.

›Ich verdiene die Sonne nicht, die mich bescheint!‹ rief Nitschke nochmals.

›Ach, seien Sie nicht langweilig‹, sagte Kuhn, ›wärmen Sie die alte Geschichte nicht auf; wenn Sie weiter nichts wollen, deswegen brauchen Sie keinen solchen Lärm zu schlagen. Was ist denn übrigens vorgefallen, das Sie auf einmal zu dieser Selbsterkenntnis gebracht hat? Haben Sie einen lichten Moment?‹

›Da, lesen Sie selbst‹, sagte Nitschke und gab ihm den offenen Brief seiner Schwester, ›lesen Sie, mit welcher Liebe die Meinen noch an mir hängen, und urteilen Sie dann selbst, wie mir jetzt, mit dem Bewußtsein dessen, was ich getan und wie ich gelebt habe, zumute sein muß.‹

Kuhn nahm den Brief, überflog ihn und gab ihn dann achselzuckend an Nitschke zurück.

›Nun, was sagen Sie dazu?‹ fragte Nitschke mit tränenden Augen.

›Lieber Gott, das ist eine alte Geschichte; dasselbe, Wort für Wort, haben Ihnen schon alle, die es früher gut mit Ihnen meinten, tausend- und aber tausendmal gesagt; haben Sie denn hören wollen? Gott bewahre! Wenn man einmal glaubte, man hätte Sie auf dem rechten Weg und sauber abgewaschen, dann sprangen Sie wieder rechts oder links ab von der Straße mitten in den Schlamm hinein und wälzten sich mit dem größten Wohlbehagen darin herum. Ebensooft haben Sie Besserung versprochen und gelobt und ebensooft, was Sie versprachen, nicht gehalten. Wie Sie sich selber dabei heruntergebracht haben, wissen Sie am besten; Sie brauchen auch niemand dazu, Ihnen das noch einmal vorzuhalten. Gehen Sie nur vor den nächsten Spiegel und betrachten Sie Ihre Jammergestalt: Ihre eingefallenen Backen, Ihre hohlen Augen, Ihre zitternden Hände, Ihre dünnen Haare; wenn man sich nicht über Sie ärgern müßte, könnte man wirklich Mitleid mit Ihnen haben. Und wie soll das enden? Jetzt halten Sie sich einmal wieder eine Zeitlang; aber wie lange wird's dauern, und das alte Leben beginnt von neuem. Ihre Schwester hat ganz recht, wenn sie sagt, daß Sie ein verlorener Mensch seien.‹

›Das bin ich auch – das bin ich auch‹, sprach Nitschke in dumpfer Verzweiflung; ›ich bin verloren, rettungslos verloren, ja, was schlimmer ist, ich bin nicht einmal wert, daß ich lebe, und das Beste, was ich tun könnte, wäre, daß ich ins Wasser spränge, wo es am tiefsten ist. Besser, von Krokodilen als von ewiger Reue gefressen zu werden.‹

›Ja, wenn Sie das nur täten!‹ sagte Kuhn ruhig. ›Bei Ihnen bleibt es aber immer bei den guten Vorsätzen. Sie haben uns schon oft etwas Derartiges versprochen.‹

Nitschke sah ihn wild und verstört an und strich die Haare drei- oder viermal wie krampfhaft aus der Stirn; es war, als ob er mit irgendeinem Gedanken kämpfe, den er nicht wolle aufkommen lassen, den er aber auch schon nicht mehr bewältigen könne. Er sprang von dem Stuhl hoch, auf dem er sich, wie in sich selbst zusammengebrochen, niedergelassen hatte, lief ein paarmal mit raschen Schritten im Zimmer auf und ab, blieb dann plötzlich vor seinem Prinzipal stehen, der ihm dabei ruhig mit den Augen folgte, und rief:

›Herr Kuhn –‹

›Herr Nitschke?‹

›Ich bin mit mir im klaren!‹

›Wäre mir lieb, zu hören.‹

›Ich mache diesem Zustand ein Ende.‹

›Jedes Mittel dazu wäre zu empfehlen.‹

›Ich kann dieses Leben nicht länger ertragen.‹

›Ich habe Ihre Ausdauer schon lange bewundert!‹

›Ich werfe es von mir.‹

›Es wäre ein Vorteil für die Kolonie.‹

›Ich schieße mir eine Kugel durch den Kopf.‹

›Dort hängen meine Pistolen‹, sagte Kuhn, mit einer halb einladenden Verbeugung über seinen Schreibtisch deutend, wo zwei große Duellpistolen hingen. Nitschke warf einen scheuen, verzweifelten Blick dorthin, sah noch einmal, wie unschlüssig, den Mann an, bei dem er vielleicht Trost zu finden erwartet hatte, der ihn aber jetzt mit ruhigem Lächeln nur noch mehr dem furchtbaren Entschluß zudrängte, und plötzlich seinen Hut mit der linken Hand fassend, sprang er zum Schreibtisch, ergriff eine der Waffen, riß sie mit dem Nagel aus der Wand an sich und stürzte der Tür zu.

›Sie ist schon geladen!‹ rief ihm Kuhn nach, ohne auch nur einen Finger zu bewegen, um ihn etwa noch zurückzuhalten.

›Leben Sie wohl, grüßen Sie meine Schwester!‹ schrie aber Nitschke, warf die Tür hinter sich ins Schloß, daß die Fenster klirrten, und sprang hinaus ins Freie. Kuhn blieb aber in seinem Stuhl liegen und schaute, mit der Hand auf der Lehne einen der üblichen malaiischen Tänze trommelnd, still lächelnd eine ganze Weile vor sich nieder. Nitschke kam aber nicht wieder; der Platz an der Wand, wo die Pistole gehangen hatte, blieb leer, und Kuhn stand endlich auf und ging langsam im Zimmer auf und ab. Der Teufel würde den Burschen doch nicht plagen, daß er wirklich einen dummen Streich machte und sich eine Kugel vor den Kopf schoß? Bah, dazu besaß er gar nicht Courage genug; aber wo blieb er? Das malaiische Mädchen, das ihm die Wirtschaft besorgte, hatte sich schon ein paarmal in der Tür gezeigt, zum Zeichen, daß das Frühstück fertig sei, und Nitschke wußte, daß er pünktlich dazu erscheinen mußte.

›Pinju!‹ rief Kuhn das Mädchen endlich an, ›apa Tuwan Nitschke?‹

›Tra tau Tuwan!‹ versetzte das Mädchen achselzuckend, ›habe ihn nirgends gesehen.‹

›Hm!‹ sagte Kuhn und ging wieder eine ganze Weile im Zimmer auf und ab. Aber es wurde ihm zuletzt unbehaglich; die fehlende Pistole störte ihn, und er horchte ein paarmal wirklich zum Fenster hinaus, weil er glaubte, einen Schuß gehört zu haben. Es wäre ihm doch nicht einerlei gewesen, wenn sich Nitschke wirklich totgeschossen hätte. Nitschke kam aber nicht zum Essen, und die Malaien im Hof wurden jetzt examiniert, wo sie ihn zuletzt gesehen hätten und was er gemacht habe. Dabei stellte sich heraus, daß er mit der Pistole den Weg zu einem kleinen Fruchtdickicht genommen hatte, durch das hier nur ein schmaler Pfad in den nächsten Kampong führte. Schießen wollte niemand gehört haben. Kuhn mochte sich übrigens nicht anmerken lassen, daß er wirklich um Nitschke besorgt war; dieser hätte es sonst am Ende, wenn er sich wieder einstellte, erfahren und sich etwas darauf einbilden können. Er ging also wieder in sein Zimmer zurück und hielt seine Siesta. Aber der Gedanke an den in solcher Aufregung Fortgestürzten ließ ihn nicht schlafen. Der sonst vollkommen charakterlose Mensch konnte doch am Ende vom Teufel geplagt und mit der geladenen Waffe in der Hand, einen dummen Streich gemacht haben. Er hätte auch nicht dulden sollen, daß er die geladene Pistole mit aus seinem Zimmer nahm, dachte Kuhn.


 << zurück weiter >>