Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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26. Heffken setzt ein Gerücht in Umlauf

Wagner kam, von der Aufregung des heutigen Tages zu Tode ermüdet, in seiner Wohnung an. Er hatte heut abend noch zu Romelaers gewollt, um dort seinen alten Freund zu bitten, der jungen Fremden eine Heimat zu geben, bis sich ein Segelschiff fände, das sie wieder in direkter Fahrt nach Europa brächte. Aber er fühlte sich nicht mehr imstande, dorthin zu fahren. Abends war er auch sicher, bei Romelaers Gesellschaft zu finden, selbst außer den Empfangsabenden, und was er mit der Familie abzusprechen hatte, verlangte und duldete keine Zeugen. Galt es ja doch, dem alten Herrn wie Marie aufrichtig das Schicksal des jungen Mädchens, dessen er sich nun einmal angenommen hatte, zu schildern, und er wußte, wie freundlich und herzlich sie dann bei ihnen aufgenommen würde. Heffken besuchte allerdings das Haus zuweilen, aber er würde es nie gewagt haben, sich der jungen Fremden dort auf eine unehrerbietige Weise zu nähern, und wäre es wirklich geschehen, so genügte ein Wort über das Vorgefallene gegen den alten Herrn van Romelaer, ihn augenblicklich von dort ausgeschlossen zu sehen.

Heffken! Wagner saß daheim allein in seinem Lehnstuhl und überdachte die vielen Erlebnisse des heutigen Tages. Heffken, wie rätselhaft sich der Mann benahm. Heute morgen war die Beraubung seiner Kasse erst entdeckt worden, ein Zwischenfall, der auf seine ganze Stellung von Einfluß sein konnte und ihn doch auf das tiefste hätte erschüttern müssen, und gegen Abend schon hatte er das alles so weit vergessen, daß er bei jenem armen Mädchen eindrang und seine schmählichen Anträge vorbereitete.

Nitschke war nicht schuldig – sein eigenes Leben hätte er dafür verpfänden wollen –, und glaubte Heffken wirklich an seine Schuld? Aber wenn nicht, welchen Grund konnte er gehabt haben, ihn anzuklagen? Und Horbach, der hier eine Existenz führte wie der verworfenste Chinese, Herr einer halben Million und dabei Sklave der niedrigsten Leidenschaften. Was für ein Leben würde der führen, wenn er jetzt nach Europa zurückkehrte und in den Besitz seines Vermögens kam – und was dann mit ihm, wenn er es leichtsinnig und rasch verschleudert? Doch was kümmerte ihn der, mochte er das zusammengescharrte Geld seiner Eltern durchbringen, was nützte ihm auch der Reichtum. Und doch – wie ungleich waren die Gaben auf dieser Welt verteilt! Dort der reiche Wüstling, hier das arme, brave Mädchen, das, in besseren Verhältnissen aufgewachsen, ohne ihr Verschulden alles verloren hatte, und nun in dem fremden Land, unter fremden Menschen eine Heimat suchen sollte.

Und diese beiden wollte van Roeken auf ein Schiff senden, daß sie die lange, ewig lange Seereise von Batavia nach Deutschland, vielleicht als einzige Passagiere, zusammen machen sollten. Und wenn sie dann, bei immerwährendem Alleinsein, Gefallen aneinander fänden. Frauen haben eine ganz verzweifelte Manie, ihr Herz gerade an solche Männer zu hängen, die das Leben auf die tollste Art durchkosteten – die Leichtsinnigsten sind ihnen gewöhnlich die liebsten, und das Mitleid, sie zu »retten«, spielt ihnen da nur zu oft einen Streich. Und wieder, was ging das ihn an? Eine brave, ordentliche Frau konnte den wüsten Menschen vielleicht doch noch bessern, und sein Geld hätte ihr wenigstens ein ruhiges Alter bereitet.

»Die Wege des Schicksals sind sonderbar«, murmelte er leise und nachdenklich vor sich hin, »und nur wo man ihm ruhig und natürlich seinen Weg läßt, gestaltet sich meist alles gut und schön. Da aber, wo wir selber mit unserem schwachen Menschenverstand in die Speichen seines Rades greifen wollen, richten wir gewöhnlich, wenn wir nicht sogar darunter zermalmt werden, nur Unheil und Verwirrung an. Das beste ist deshalb, die ganze Sache ruhig gehen zu lassen, wie sie einmal geht; das Schiff treibt mit der Strömung die Flut hinab; der Mensch kann und soll es steuern und vor Gefahren so gut wie möglich behüten, aber er ist nicht imstande, es umzuwenden und gegen solche Strömung hinaufzufahren.

»Gegen Gefahren schützen, ja«, fuhr er nach einer kleinen Pause nachdenklich fort, »und mehr hab' ich auch heute nicht getan; armes Kind, das so weit in die Welt hinausgeschleudert wurde!«

Wagner hatte sich fest in seinen bequemen Lehnstuhl hineingedrückt, blies den Rauch seiner Zigarre in dichten Wolken von sich und träumte, den Kopf in die Hand gestützt, noch einmal all die heutigen Szenen durch – Nitschkes Verhaftung – die Höhlen im chinesischen Viertel und – der Malaie – wo nur hatte er schon das Gesicht gesehen? Wo war ihm der Bursche aufgefallen, der bei seinem Anblick so scheu zurückprallte? Jetzt überdachte er auch Tojiangs seltsames Betragen, der sie dort am Anfang nicht hatte einführen wollen. Sie glaubten, es geschähe deshalb, weil es ein geheimes Trink- Spiel- und Rauchhaus sei; das war aber nicht der Fall. Jenes Winkelgebäude gehörte wohl zu den verworfensten, aber wahrhaftig nicht zu den geheimen Höhlen des Viertels, und was konnte ihn dann bewogen haben, sie nicht gleich dorthin zu führen? Auch daß er vorher in das Haus hineinsprang, ehe er sie folgen ließ, fiel ihm ein. Sollte jener Javaner vielleicht damit in Verbindung stehen? Er hatte die Wagen rollen hören und jedenfalls geglaubt, die Weißen wären fort, denn daß einer von ihnen den Platz zu Fuß verlassen würde, konnte er allerdings nicht erwarten. Wie er sich dem nun plötzlich gegenübersah, schrak er zurück – aber weshalb? Jedenfalls hatte er ein schlechtes Gewissen, er würde sonst nicht den Riegel der Haustür vorgeschoben haben. Oder wünschte er bloß, einen Weißen, der in dieser Gegend wirklich nichts zu suchen hatte, aus seinem Haus herauszuhalten? Aber was kümmerte ihn der Javaner, ihm gingen andere Dinge durch den Kopf, und während er lächelnd vor sich hin nickte, flüsterte er: »Marie muß helfen.«

Wagner hatte, wie schon erwähnt, noch an diesem Abend zu Romelaers fahren wollen, es aber bis auf den nächsten Morgen aufgeschoben. Wir sollten eigentlich nie etwas aufschieben, denn die Zeit verfliegt, und wie oft schon machte der Morgen das unmöglich, was noch der vorige Abend ganz anders würde gestaltet haben. Wie oft halten wir uns für Herren der Zeit und fühlen erst dann, wenn sie uns unter den Händen davongleitet, wie klein, wie machtlos wir ihr gegenüberstehen. Aber das sorglose Menschenvolk träumt immer weiter, baut Pläne auf Pläne in die blaue Luft hinein und denkt und hofft für morgen nach wie vor.

Romelaers waren an diesem Abend, wie es sich Wagner auch gedacht hatte, allerdings nicht ganz allein, aber nur zwei Gäste fanden sich ein, die plaudernd um den großen, runden Teetisch saßen: der Hauptmann Bernstoff, ein noch junger Mann aus einer angesehenen holländischen Familie, der sich in den letzten Kriegen gegen die Eingeborenen in Sumatra und Bali ausgezeichnet hatte und rasch avanciert war, und – unser alter Bekannter Herr Heffken, der Buchhalter. Heffken war gegen Abend in Geschäften zu Romelaers gekommen – wenn er nicht diese eben nur als Ausrede nahm – und hatte dem alten Herrn auch den bei ihm verübten Einbruch mitgeteilt. Eine solche Sache geheimzuhalten, die sechs oder acht Personen gleich von Anfang an wußten, ließ sich ja doch nicht durchführen. Er sprach dabei über den Verdacht, den er hatte, sowie über den erlittenen Verlust. Romelaer, gutmütig wie immer, und da ihm der kleine Mann heute besonders niedergeschlagen vorkam (Heffken hatte gerade das Hotel der Nederlanden verlassen und befand sich allerdings in einer etwas ungemütlichen Stimmung), lud ihn ein, den Abend bei ihnen zu verbringen. Was geschehen war, ließ sich doch einmal nicht mehr ändern, und vielleicht gelang es den Gerichten, den Täter noch ausfindig zu machen. Hauptmann Bernstoff kam später dazu, und da sich van Romelaer besonders für Sumatra interessierte, wo er nicht unbedeutende Kapitalien stecken hatte, hörte er den oft romantischen Schilderungen der dortigen Zustände und der Eingeborenen mit großer Aufmerksamkeit zu; auf die Länge der Zeit fand er aber doch nicht Interesse genug an diesen Schilderungen, um ihnen den ganzen Abend zu widmen. Er ging nämlich nicht gern zu Bett, ohne vorher ein paar Rubber Whist oder eine Partie L'Hombre gespielt zu haben, und fand sich, als er endlich den Hauptmann dazu aufforderte, in seinen Erwartungen etwas getäuscht, als dieser ihm gestand, er kenne gar keine Karten.

»Keine Karten!« rief Romelaer erstaunt aus, »helf uns Gott, Mann, womit verbringt Ihr denn da Eure Abende?«

»Auf bessere Weise als mit dem langweiligen Kartenspielen, Papa«, nahm aber Marie des Hauptmann Partei, »das eigentlich nur erfunden ist, um uns arme Frauen zu ärgern und zu Tode zu langweilen.«

»Warum spielt Ihr nicht auch?« sagte der Vater.

»Das wäre nachher eine hübsche Gesellschaft«, lachte das junge Mädchen, »wenn sich die verschiedenen Gruppen nur in die Ecken setzten, um den ganzen Abend zu versuchen, ob einer mehr rote oder schwarze Blätter bekommt, denn darauf läuft das Ganze ja doch nur hinaus. Erst beim Fortgehen erführe man dann, wer eigentlich da war und was in der Welt indessen vorgeht – nein, niemals.«

»Über die Mitmenschen würde weit weniger gelästert werden, wenn alles Karten spielte, mein Kind«, verteidigte der alte Herr sein Spiel; »denn wenn ihr bei einer Näh- oder Stickarbeit sitzt, da hat die Zunge freien Raum und kann indessen das größte Unheil anrichten. Beim Kartenspiel müßt ihr aber still sitzen und aufpassen, und darum mögen es die Frauen so selten leiden. Wenn nur Wagner wenigstens heut abend gekommen wäre, da hätten wir doch eine Partie zusammengebracht; weiß aber der Henker, wo der die letzten Tage steckt; er ist nur ein einziges Mal und dann kaum auf eine Stunde dagewesen.«

»Herr Wagner hat jetzt andere Dinge im Kopf«, lächelte Heffken still vor sich hin, »und wird sich auch wohl in der nächsten Zeit hier sehr wenig einfinden.«

»Ach was«, sagte Herr Romelaer, »der Tag gehört den Geschäften, das ist richtig, was aber nicht erledigt werden kann, solange die Sonne am Himmel steht, gehört dem anderen Morgen, Mail-Tage natürlich ausgenommen. Da sollte der Henker das Leben in Indien holen, wenn wir uns auch noch unsere einzige freie Zeit, die herrlichen Abende, mit langweiligem Briefeschreiben verkümmern wollten. Auf einmal kann man doch nicht reich werden, und solange wir leben, sollen wir das Leben auch genießen.«

»Ich glaube nicht, daß sich Herr Wagner gegenwärtig viel mit Geschäften befaßt«, fuhr aber Heffken boshaft fort, »wenigstens sollte ich nicht glauben, daß er davon viele im Hotel der Nederlanden abzuschließen hat.«

»Alle Wetter!« rief Romelaer, sich rasch zu dem Buchhalter umdrehend, »da hab' ich ihn neulich auch getroffen. Er machte dort einen Besuch, und als er zurückkam, rannte er mich beinahe um, sah mich aber gar nicht und hatte einen dicken roten Kopf.«

»Solange wir leben«, wiederholte Heffken trocken van Romelaers Worte, »sollen wir das Leben auch genießen.«

»Was für Fremde logieren denn dort?« fragte Marie, die den Buchhalter aufmerksam beobachtete, denn es konnte ihr nicht entgehen, daß er mehr wußte, als er bis jetzt ausgesprochen hatte oder auch vielleicht aussprechen mochte. Er und Wagner waren ja befreundet.

»Keine von Bedeutung«, meinte Heffken aber ausweichend, »Herr Hauptmann Bernstoff müßte uns sonst darüber Auskunft geben können, denn Sie logieren ja dort auch, nicht wahr?«

»Allerdings«, sagte der Hauptmann; »als wir Herrn Wagner neulich dort drüben trafen, hat er, soviel ich weiß, einen Besuch bei einer Dame gemacht – einem jungen, reizenden Mädchen, das erst ganz kürzlich mit der Rebecca von Deutschland gekommen ist.«

»Ganz recht«, bestätigte Heffken, »mit einem Schiff der Firma Wagner und van Roeken.«

»Sie sind boshaft, Herr Heffken!« rief Marie und fühlte, wie sie dabei blutrot wurde.


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