Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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8. Herr Scharner zeigt Hedwig einen Brief aus Batavia und macht ihr einen Vorschlag

Die nächsten Tage beschäftigte sich das Stadtgespräch einzig und allein mit dem Duell zwischen dem Hauptmann von Rustloh und Herrn von Dorsek. Über die Ursache gingen die verschiedensten Gerüchte um, an denen, wie gewöhnlich, etwas Richtiges war, das sich die Gesellschaft aber dann auf ihre eigene Weise ausschmückte. Danach hatte der Zweikampf nämlich um die junge reiche polnische Gräfin stattgefunden, und Dorsek, der begünstigte Liebhaber, war von seinem Nebenbuhler, dem Hauptmann, gefordert worden. Daß beide bis dahin intime Freunde waren, machte die Sache natürlich nur noch interessanter, und man bedauerte nur den armen Dorsek, der jetzt mit zerschmettertem Arm zu Haus lag und seinen Erfolg in der Liebe mit einem vielleicht langwierigen Kranken- und Schmerzenslager büßen mußte.

Hedwig wußte alles. Scharner hatte jetzt nicht mehr zögern dürfen, ihr die ganze Wahrheit mitzuteilen. Im ersten Augenblick schien sie auch von der Nachricht mehr betrübt als erschüttert zu sein, aber als der Schmerz um den geliebten Mann sie mehr und mehr einnahm, überkam sie auch stärker das Gefühl ihrer Verlassenheit, da sie jetzt in der weiten Welt ganz allein und hilflos stand. Scharner hätte ihr gern geholfen, aber er vermochte es nicht. Selber mit einer großen Familie und in wenig bemittelten Umständen auf das angewiesen, was er selber und allein verdiente, konnte er da kein Opfer bringen – und auch seine Trostgründe übten keine Macht mehr auf das Herz aus, das sich fest und starr in sich selber zurückgezogen hatte. Die Zeit rückte ebenfalls heran, in der Hedwig auch noch ihre Wohnung verlassen mußte, denn ihr Gegner im Prozeß hatte geschworen, und das Urteil war deshalb gegen sie gefällt worden. Früher wohl hatte sie diesem Augenblick mit Zittern und Bangen entgegengesehen, jetzt, nachdem alles andere um sie niedergebrochen war, traf sie die Vorbereitungen dazu so ruhig und kaltblütig, als ob es sich nur darum handle, die alten lieben Räume für wenige Wochen zu verlassen – und doch, mit wie schwerem Herzen schied sie aus dem Haus.

Es gehörte früher ihren Großeltern; sie selber war darin geboren worden und hatte es erst in ihrem siebzehnten Jahre verlassen, als die Eltern nach Mainz übersiedelten. Hierher flüchtete sie mit der Mutter, als die letzte schlimme Katastrophe ihnen Vermögen und Vater nahm, und jetzt sollte sie es fremden Menschen übergeben. – Oh, daß Gott sie doch mit der Mutter damals zu sich genommen hätte, um ihr alles das zu ersparen, was für ein Menschenherz ja fast zu viel, zu furchtbar viel wurde! Während des Packens überkam sie oft eine Angst vor der Stadt selbst, in der sie sich befand, und ein Gefühl erfaßte sie, daß sie fort müsse, weit, weit fort von hier, als ob sie hier nie wieder froh und glücklich werden könne. – Aber wohin? – Von jetzt an allein auf ihrer Hände Arbeit angewiesen, durfte sie nicht hoffen, in irgendeinem kleinen fremden Ort hinreichende Beschäftigung zu finden. Deshalb konnte sie das nicht aufgeben, was sie hier schon hatte – wenigstens jetzt noch nicht. Es mußte ertragen werden, wie ja schon so vieles ertragen war, ertragen werden sollte. Die alte Kathrine half schweigend; sie durfte sich ja nicht merken lassen, wie weh ihr selber ums Herz war, um ihr armes junges Fräulein nicht noch trauriger zu machen. Wo es aber ungesehen geschehen konnte, wenn sie sich auf dem Boden oder in den Kammern etwas zu schaffen machte, liefen ihr die großen, hellen Tränen desto stärker über die Wangen nieder.

Hedwig hatte ihre Wäsche zusammengepackt und saß erschöpft und still in dem Lehnstuhl der Mutter am Fenster, als Herr Scharner rascher und lebendiger als je den kleinen, jetzt verwaisten Garten betrat und in das Haus kam. Von außen nickte er ihr auch nur einmal freundlich zu – freundlicher, als er das die ganze letzte Zeit getan hatte, und Hedwig schrak zusammen, denn unwillkürlich kam ihr der Gedanke, es müsse etwas Besonderes und diesmal etwas Gutes vorgefallen sein – sollte Oswald...? Ein plötzlicher Schmerz stach ihr durchs Herz – Oswald war für sie verloren, denn wäre er jetzt selbst reuig zu ihr zurückgekehrt, sie hätte ihn nie mehr lieben, nie mehr achten können. Und weshalb dann doch dieser Gram um den Verlorenen? So erregt und von irgend etwas erfüllt der alte Advokat aber auch augenscheinlich gewesen war, ehe er das Haus betrat, so sehr schienen ihm die Worte zu fehlen, als er seinem Gefühl Ausdruck geben sollte. Er saß wenigstens eine ganze Weile verlegen neben Hedwig und sprach von allem, nur nicht von dem, was ihn heute zu einer ganz ungewöhnlichen Stunde hierhergeführt hatte. Selbst von Dorsek erzählte er, dessen Namen er seit jener Enthüllung noch nicht wieder erwähnte, daß es mit ihm besser gehe und die Gräfin Orlaska jeden Tag einen Abgesandten schicke und sich nach seinem Befinden erkundigen lasse. Die Verbindung der beiden war so gut wie ausgemacht, und man schien nur auf seine völlige Genesung zu warten.

Hedwigs Herz wurde schwer – was hätte er ihr jetzt noch mitteilen können, das sie trösten mochte.

Der alte Mann sprach dann von ihrem künftigen Leben – der gedrückten Stellung, in der sie sich hier befinden würde – der Wohltat, die es für sie sein müsse, wenn sie imstande wäre Frankfurt zu verlassen, um nie, nie wieder an einen Ort zurückzukehren, der so viele der schmerzlichsten Erinnerungen für sie habe, und in einem fernen Land ein heiteres, sorgenfreies Leben zu beginnen. Was wollte er damit? – Hedwig sah staunend zu ihm auf, denn bis jetzt hatte er nur trostreiche Worte für sie gehabt, und jetzt malte gerade er ihr das künftige Leben mit so viel dunkleren Farben aus, da er, vor allen anderen, ja recht gut wußte, daß sie nicht die Mittel besaß, sich ihm zu entziehen. Und doch mußte er noch irgend etwas im Rückhalt haben, er hätte sonst nicht so gesprochen – aber was?

»Wozu das alles noch einmal erwähnen, bester Herr Scharner«, sagte sie endlich. »Wieder und wieder habe ich mir dasselbe vorgehalten, aber das Resultat bleibt dasselbe. Ich sehe keinen anderen Ausweg, und mein Leben wird von jetzt an dem jener Tausenden von Unglücklichen gleich sein, die ich immer bedauert habe und die mit der Nadel ihr saures Brot verdienen müssen. Lassen Sie mich vergessen, daß ich in besseren, glücklicheren Verhältnissen erzogen wurde; lassen Sie mich vergessen, daß ich überhaupt eine Vergangenheit hatte und auf eine Zukunft hoffen durfte. Es ist vorbei, und weshalb die kaum vernarbende Wunde immer wieder aufs neue aufreißen – es gibt kein Mittel mehr, sie zu heilen!«

»Und wenn ich ein Mittel wüßte?« sagte der alte Mann, und seine Stimme zitterte, als er sprach.

»Ein Mittel, mir zu helfen?« sagte Hedwig, traurig den Kopf schüttelnd. »Ihr gutes Herz mag Sie vielleicht mit dem Gedanken gequält haben, aber für mich gäbe es keine andere Hilfe als eine, die mich weit, weit von Frankfurt fortschaffte. Die Häuser erdrücken mich hier, jede Straße, jedes Haus ruft mir die Erinnerung meiner glücklichen Jugendzeit ins Gedächtnis zurück – sagt mir, wie namenlos elend ich jetzt geworden bin, und wird ein Vergessen zur Unmöglichkeit machen.«

»Und wenn ich Ihnen gerade eine solche Hilfe brächte!« rief der alte Mann. »Aber gönnen Sie mir ein paar Minuten Gehör«, fuhr er fort, als Hedwig staunend und überrascht zu ihm aufsah, »lassen Sie mich ein wenig weiter ausholen, ich erkläre Ihnen dann alles und habe vielleicht das Mittel in Händen, Ihren heißesten, innigsten Wunsch zu erfüllen.«

»So reden Sie«, sagte Hedwig mit fast tonloser Stimme.

»Seit langen Jahren«, erzählte da der alte Mann, dem es sich jetzt wie eine Last von der Seele wälzte, »stehe ich in enger Verbindung mit einem fernen Erdteil, mit Batavia. Ein lieber junger Freund von mir, mein Pate und zugleich halbwegs mein Pflegesohn, lebt dort als Kaufmann, und ich besorge hier in Deutschland, mit dem er lebhaften Verkehr unterhält, die Geldgeschäfte seines Hauses. Er hat sich nämlich dort mit einem jungen Holländer etabliert – der Holländer heißt van Roeken, mein junger Freund Wagner –, besitzt mehrere eigene Schiffe, mit denen er nach Sumatra, China und Holländisch-Indien Handel treibt, schickt dann die Güter: Kaffee, Zucker, Cochenille, Tee, Reis, Pfeffer, und wie die Produkte alle heißen, hier nach Europa und macht außerordentlich bedeutende Geschäfte. Beide junge Leute nun, Wagner wie der Holländer van Roeken, gingen als arme Kommis nach Java, und in diesem Augenblick befinden sie sich, ihr Vermögen ganz niedrig veranschlagt, im Besitz einer halben Million, die sie sich durch Fleiß und umsichtige Spekulation erworben haben. Wagners Schilderungen von Java sind dabei entzückend; es muß ein ganz reizendes, wundervolles Land sein, mit einem äußerst gesunden Klima, denn die Märchen, die man sich von der tödlichen Luft Batavias erzählt, sind ja alle veraltetDas früher von Mauern eingeschlossene Batavia war allerdings ein für Europäer äußerst ungesunder Ort; aber diese Mauern sind lange niedergerissen; die Seeluft hat freien Durchzug, und da alle Europäer draußen in den Vorstädten und in von Gärten umgebenen Villen leben und nur die Arbeitszeit in der Stadt zubringen, befinden sich auch fast alle Europäer dort inzwischen wohl und gesund: ja, englische Offiziere kommen nicht selten von Britisch-Indien dort hinüber, um ihre angegriffene Gesundheit in den javanischen Bergen wiederherzustellen. , und er kann nicht genug rühmen, wie wohl er sich da fühlt.« Der alte Mann schwieg. Der Faden war ihm wieder abgerissen, und er wußte nicht, wie er ihn aufs neue anknüpfen sollte.

»Nun?« sagte Hedwig, aufs äußerste gespannt, wie das enden würde.

»Ein Übelstand ist aber dort«, fuhr Scharner endlich, so dazu gedrängt, fort. »Es ist größtenteils ein Staat von Männern – von Kaufleuten, die nur selten mit ihren Familien hinübergehen. Mein Pate Wagner ist unverheiratet – ebenso sein Freund van Roeken. Unter den Eingeborenen dort haben sie wahrscheinlich keine passende Verbindung knüpfen können. Wagner ist auch noch sehr jung, kaum achtundzwanzig Jahre alt; van Roeken noch um einige Jahre jünger.«

»Aber was hat das alles mit mir zu tun?«

»Mein liebes Fräulein«, brach da endlich der alte Scharner los, indem er in die Tasche griff und einen Brief herausnahm, »ich will nicht länger hinter dem Berge halten – lesen Sie diese Zeilen – bitte, jetzt nicht – lassen Sie mich erst fortgehen. Sie müssen ungestört dabei – Sie müssen allein sein; ich komme dann morgen früh wieder, um weiter mit Ihnen über die Sache zu sprechen. Nur noch eine Bemerkung erlauben Sie mir: van Roeken, den Holländer, kenne ich nicht persönlich, wie Sie auch aus dem Brief ersehen werden, Wagner dagegen von Jugend auf – von Kindesbeinen an. Er ist ein durchaus rechtlicher, braver, lieber Mensch, der sich nie mit einem Mann in so enge Geschäftsverbindung eingelassen hätte, wenn er ihn nicht genau und als einen Ehrenmann kennen würde. Außerdem hat mir Wagner schon mehrmals über seinen Freund und Kompagnon geschrieben, und das war immer nur sehr günstig. Aus diesem Grund könnte ich mich selber veranlaßt sehen, als sein wärmster Fürsprecher aufzutreten.«

»Und den Brief?«

»Behalten Sie jetzt hier und lesen ihn aufmerksam durch«, sagte der alte Mann, von seinem Stuhl aufstehend. Er war jedenfalls froh, das Gespräch so weit gebracht zu haben. »Aber bitte, meine liebe Hedwig, recht, recht aufmerksam. Denken Sie dabei an Ihre ganzen Verhältnisse hier – denken Sie daran, daß Ihnen der Inhalt vielleicht als Mittel dienen könnte, nicht allein allem, was Sie jetzt hier drückt, zu entfliehen, sondern auch – aber ich spreche zu viel«, brach er rasch ab. »Daß ich Ihnen überhaupt den Brief gebe, mag Ihnen beweisen, wie ich über die Sache denke, und wie mir Ihr Wohl am Herzen liegt, wissen Sie, ohne daß ich ein Wort weiter darüber zu sagen brauchte. Ich würde Ihnen bestimmt zu keinem Schritt raten, wenn ich nicht im voraus die feste Überzeugung hätte, daß er Ihrem Wohl dient.«

Hedwig hielt den Brief in ihrer Hand und reichte Scharner dankend ihre Rechte. Er drückte sie herzlich, beugte sich zu ihr hinüber, küßte ihre Stirn und verließ dann rasch das Haus.

Lange, lange schon war er fort, und Hedwig saß noch immer, wie er sie verlassen hatte, stumm und regungslos in ihrem Stuhl, den Brief in ihrer Hand, den Kopf gesenkt, die Augen starr auf das Papier geheftet. – Aber ,was nützte das Zögern – einmal mußte sie doch lesen, was er enthielt, und mit diesem Entschluß richtete sie sich rasch auf, faltete das Blatt auseinander und las die wenigen, doch inhaltschweren Zeilen. Sie lauteten:

Lieber Herr Scharner!

In einer wichtigen Angelegenheit wende ich mich, wenn auch persönlich unbekannt, an Sie. Sie sind der intime Freund meines Kompagnons, des wackeren Wagner, der mir sehr viel Gutes und Liebes schon von Ihnen erzählt hat, und welches Vertrauen ich in Sie setze, beweise ich mit diesem Schritt.

Wagner hat Sie vielleicht schon mit unseren bürgerlichen Verhältnissen bekannt gemacht. So leicht es für uns hier ist, uns eine behagliche Wirtschaft zu schaffen, so unendlich schwer ist es, eine passende Frau hinein zu bekommen, wenn wir nicht eben zu dem letzten und oft verzweifelten Mittel greifen wollen, eine Liplap, das heißt eine Frau aus gemischtem Blut, zu nehmen – und an eine gemütliche Häuslichkeit ist da selten zu denken. Deshalb nehme ich zu diesem keineswegs ungewöhnlichen Weg meine Zuflucht.

Mein Wunsch ist: ein deutsches Mädchen zu heiraten; sie werden anerkannt die besten Hausfrauen – Wagner wenigstens behauptet das. Wissen und kennen Sie also eine junge Dame in Deutschland, die gesonnen wäre, ihr Schicksal mit dem meinen zu vereinigen, so bitte ich Sie freundlichst die Vermittlung zu übernehmen.

Meine Ansprüche sind nicht übermäßig. Ich verlange ein gebildetes, braves junges Mädchen von achtzehn bis dreiundzwanzig Jahren, natürlich nicht häßlich, obgleich ich auf wirkliche Schönheit verzichte. Ich verlange kein Vermögen, wünsche aber, daß meine künftige Frau musikalisch ist und, wenn irgend möglich, Französisch spricht – voilà tout.

Können Sie eine junge Dame von obiger Beschreibung dahinbringen, meine Hand anzunehmen, so bitte ich Sie, diese mit dem nächsten Mail-Boot hierher zu senden. Für Überfahrt und vielleicht nötige Ausstattung liegt ein Wechsel bei, der auch genügen wird, ihr einen Dienstboten mitzugeben. Ich wünsche, daß meine künftige Frau bequem und anständig reise. Anzufragen brauchen Sie bei mir weiter nicht; mir liegt daran, eine Verbindung sobald wie nur möglich zu knüpfen, und ich erwarte meine Braut deshalb mit der nächsten, spätestens mit der zweiten Mail.

Noch eins. Der Fall ist, wenn auch nicht wahrscheinlich, doch denkbar, daß wir uns, falls sie hier eintrifft, nicht behagen sollten. Ist das von ihrer Seite der Fall, so steht ihr ein Rücktritt frei – sollte sie sich dann anderweitig hier verheiraten, so verlange ich nur die ausgelegte Passage zurück – im anderen Fall selbst das nicht. Sollte ich in ihr dagegen das nicht finden, was ich zu finden erwartet habe, also ein Hindernis von meiner Seite eintreten, so biete ich an, ihr freie Rückpassage und außerdem fünftausend Gulden auszuzahlen, die sie für die Reise wenigstens entschädigen mögen. Aber ich erwähne dies nur als Sicherstellung für die Dame, die sich mir anvertrauen will, zweifle dagegen keinen Augenblick, daß wir uns gegenseitig achten und lieben lernen und glücklich miteinander leben werden.

Einem günstigen Erfolg dieser Aufforderung in nächster Zeit entgegensehend, zeichne ich indessen, hochverehrter Herr Scharner, in wahrer und aufrichtiger Hochachtung als

Ihr ergebener
Leopold van Roeken.

Hedwig hatte den Brief wieder und wieder durchgelesen und saß noch immer, das verhängnisvolle Blatt vor sich auf den Knien, und starrte still und schweigend darauf nieder.

Die Kathrine war mehrmals ins Zimmer gekommen, teils wirklich etwas besorgend, teils sich nur ein Geschäft machend, um zu sehen, ob ihre junge Herrin noch immer nicht aus ihrem Brüten aufwachen wolle – denn sie wagte nicht, sie zu stören. Hedwig hörte weder ihr Kommen noch ihr Gehen. Die Sonne sank, und der Abend dunkelte, ja es wurde Nacht, und noch immer rührte und regte sie sich nicht.

»Soll ich Licht hereinbringen?« fragte Kathrine endlich, die das nicht länger ertragen konnte. Sie erhielt keine Antwort und ging hinaus, um die Lampe auf eigene Verantwortung anzuzünden. Auch Essenszeit war es geworden und das frugale Mahl aufgetragen worden; Hedwig aß und trank nicht und saß noch immer, die Augen fest und eisern auf den Brief geheftet. Die treue Magd wagte nicht, das Zimmer zu verlassen; ihr Fräulein mußte krank sein, denn so hatte sie sich noch nie betragen – wenn ihr der unglückselige Brief nicht etwa eine neue Schreckensnachricht gebracht hatte. Endlich sah Hedwig auf, und das Mädchen bemerkend, sagte sie leise: »Geh zu Bett, Kathrine – es ist spät geworden.«

»Und Sie sind nicht krank, liebes Fräulein?« rief die treue Dienerin, die schon durch die wenigen Worte ihr Herz von einer schweren Sorge befreit fühlte.

»Nein, Kathrine«, sagte Hedwig leise, »ich bin nicht krank.«

»Und es fehlt Ihnen auch sonst nichts?«

»Nein – es ist alles gut – geh zu Bett; ich werde mich auch gleich schlafen legen. Das Haus ist doch verschlossen?«

»Alles fest; Tür und Läden.«

»So geh zu Bett. Gute Nacht, Kathrine!«

»Gute Nacht, mein liebes Fräulein – aber Sie gehe doch auch gleich zu Bett und grübele nicht länger mehr über de alte häßliche Brief da?«

»Ich gehe gleich zu Bett – gute Nacht.«

Die Kathrine hatte das Zimmer verlassen; Hedwig sah ihr nach, bis sich die Tür hinter ihr schloß, dann ging sie zum Sofa, barg das blasse Antlitz in den Kissen und weinte sich still und heimlich aus.


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