Friedrich Gerstäcker
Unter dem Äquator
Friedrich Gerstäcker

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48. Lockhaarts Pläne und Hedwigs Entscheidung. – Neue Nachrichten über von Dorsek

Lockhaart trieb jetzt selber zur Abfahrt, und so erstaunt die Damen auch waren, den Heimweg schon wieder anzutreten, fügten sie sich doch bereitwillig den Anordnungen des alten Herrn. Sie wußten außerdem recht gut, daß er überhaupt keinen Widerspruch ertrug und für alles, was er tat, seine guten Gründe hatte. Auf der Heimfahrt waren aber auch die Plätze anders arrangiert worden, denn man hatte Herrn Holderbreit jetzt doch nicht zumuten mögen, mit Herrn Joost, seinem Gefangenen und einem der Oppass in demselben Wagen zu fahren. Salomon Holderbreit war deshalb den Damen als Begleiter zugeteilt worden, und van Straaten setzte sich mit zu seinem Schwager und Wagner hinein.

Salomon Holderbreit hätte nun allerdings gern zuerst erfahren, was es für eine Bewandtnis mit dem gefangenen und mit dem freigelassenen Javaner hatte; da aber niemand Zeit zu haben schien, ihm darüber Rede und Antwort zu stehen, und die Damen gar nichts davon wußten, mußte er eine Erklärung darüber wohl für andere Zeit erwarten. Sowie die Wagen anfuhren, machte Wagner vor allen Dingen van Straaten mit den Einzelheiten des Vorgefallenen bekannt. Besonders interessierte sich der gutmütige Mann für Patanis und seiner Frau Geschick und versprach ebenfalls, seinen geringen Einfluß aufbieten zu wollen, um sie vor jeder weiteren Verfolgung zu schützen und sicherzustellen.

Lockhaart hatte die ganze Zeit ernst und schweigend vor sich niedergesehen. Seine Gedanken waren augenscheinlich bei ganz anderen Szenen als der gegenwärtigen. Plötzlich sagte er halblaut und mit sich selber redend: »Ich muß einmal mit ihr darüber sprechen – vielleicht ist ihm doch noch zu helfen.«

»Wem?« fragte van Straaten. »Sitzt der jetzt da in der Ecke und faselt Unsinn – wem ist noch zu helfen?«

»Dem Oswald!« flüsterte der alte Mann. »Er bleibt ja doch immer der Sohn meiner armen Marianne, und wär' der das Herz nicht gebrochen, hätte sich doch auch wohl für ihn manches anders gestaltet.«

»Aber was willst du mit ihm machen?« sagte van Straaten. »Selbst das vorausgesetzt, daß du ihn vom Militärdienst freibekämst.«

Lockhaarts Blick haftete fest und forschend auf Wagner; endlich sagte er leise: »Glauben Sie, Wagenaar, daß ihn das Mädchen noch liebt?«

Wagner brauchte eine lange Zeit, ehe er die Frage beantwortete. Einmal schon glaubte Lockhaart, er habe sie gar nicht gehört, und trotzdem wagte er sie nicht zu wiederholen. Endlich sagte der junge Mann: »Wer kann in dem Herzen eines Mädchens lesen? Aber – selbst wenn es der Fall wäre, glauben Sie, daß sie mit ihm glücklich werden könnte?«

»Oswald ist von Herzen gut«, verteidigte ihn der alte Mann, »bodenlos leichtsinnig, ja, aber ich halte ihn nicht für schlecht. Täte ich es, wäre ich der letzte, der das arme Mädchen an seiner Seite unglücklich machen würde. Er hat nur einen schwankenden, unsteten Charakter – er ist nicht selbständig genug und braucht jemanden, der ihn unterstützt und -«

Der alte Mann schwieg und seufzte aus tiefster Brust, denn das gerade, was er zur Entschuldigung seines Neffen sagen wollte, stimmte so gar nicht mit seinem eigenen Charakter überein und kam ihm selber so verabscheuenswert vor, daß er nicht weiter darin fortfahren mochte.

»Darüber solltest du dir die wenigsten Sorgen machen«, sagte van Straaten. »Frauen lieben gar nicht selten gerade das an dem Charakter eines Mannes, was uns an ihm mißfällt, und selbst Mitleid ist schon halbe Liebe. Wer weiß, ob Hedwig sich nicht gern in ein solches Verhältnis eingewöhnte, wenn wir den jungen Burschen selber nur für irgendeine dauernde Tätigkeit gewinnen könnten! Arbeiten muß er aber etwas, sonst ist er nicht allein hier verloren, sondern er machte auch seine Frau mit elend, und – dazu möchte ich die Hand nicht bieten, und wenn es mein eigener Sohn wäre.«

»Aber was erträgt eine Frau nicht alles, wenn sie den Mann ihrer Wahl wirklich liebt!« sagte Lockhaart, immer noch unschlüssig. »Nicht, daß ich ihr zumuten möchte, sich zu zwingen«, setzte er rasch hinzu, »aber dadurch gäbe es doch noch vielleicht eine Rettung für den armen Teufel, der sonst rettungslos verlorenginge. Wie wär's, Wagenaar, wenn Sie mir den Gefallen täten und einmal mit Fräulein Bernold über die Sache sprächen, die...«

»Sie kennen vielleicht nicht die Einzelheiten des Kontrakts, zu denen sich van Roeken verpflichtet hat«, unterbrach Wagner rasch den alten Herrn. »Sobald sich Fräulein Bernold hier verheiratet, hat er nämlich weiter keine Verbindlichkeiten zu erfüllen, als ihr die vorher vereinbarten fünftausend Gulden auszuzahlen.«

»Die kein Mensch braucht oder verlangt«, sagte Lockhaart ärgerlich.

»Es handelt sich aber immerhin um eine Geldangelegenheit«, beharrte Wagner, »und da ich mit zur Firma gehöre und mir van Roeken die Regelung dieser Angelegenheit anvertraut hat, möchte ich der letzte sein, der Fräulein Bernold überredete, sich hier wieder ehelich zu verbinden. Wenn ich mir selber auch deshalb nichts vorzuwerfen hätte, könnten es doch am Ende andere tun.«

»Diese verfluchte Gewissenhaftigkeit!« rief Lockhaart ärgerlich; »so peinlich genau kann auch wahrhaftig nur ein Deutscher sein. Keinem Menschen würde es einfallen, Ihnen eigennützige Absichten zuzutrauen – und noch dazu einer solchen Bagatelle wegen.«

»Ich bitte Sie trotzdem, mich in dieser Sache zu entschuldigen.«

»Dann überlaß es mir, Martijn«, sagte van Straaten; »ich will bald wissen, woran ich mit dem jungen Mädchen bin, selbst auf die Gefahr hin, daß sie glauben könnte, wir wollten sie los sein. Sie sehen, Mynheer Wagenaar, daß ich nicht so viele Rücksichten nehme wie Sie. Das aber sag' ich dir, Martijn, mag sie den Burschen nicht, dann bin ich der allerletzte, ihr zuzureden, ihn zu nehmen, und wenn er zehnmal unser Neffe ist. Ein liederlicher Strick bleibt er immer, der weit eher verdient seine Zeit hier als Soldat abzuexerzieren, als ein solches Mädchen heimzuführen.«

»Aber wenn sie ihn noch liebt, Lodewijk«, sagte Lockhaart leise, »wäre es dann nicht vielleicht doch möglich, einen ordentlichen und braven Menschen aus ihm zu machen?«

»Wer weiß es? Liebe soll ja überhaupt blind machen«, sagte van Straaten achselzuckend. »Wenn sie vollständig blind ist, nimmt sie ihn vielleicht. Das beste wäre aber, du kriegtest den sauberen Patron indessen einmal ordentlich vor und sähest, ob noch ein brauchbarer und gesunder Kern in der faulen Schale steckt – nachher kommen wir rasch zu einem Resultat. Sonderbar bleibt es freilich, daß sich die beiden Leute in Europa aufgegeben haben sollten, um in Indien wieder zusammenzufinden. Man möchte dann fast denken, daß sie der Himmel selber füreinander bestimmt hätte.«

»Gott gebe es, Gott gebe es«, murmelte der alte Herr leise vor sich hin, »und mein bester Segen sollte ihnen folgen!«

Keiner der drei sprach weiter ein Wort, bis der Wagen durch das um Bandong liegende flache Land rollte, eine kurze Strecke an den hohen Hecken dahinfuhr, jetzt in das Tor einbog und die breite ebene Straße zum Hotel einschlug, während rechts und links die eben angezündeten Lichter aus dem grünen Laub der Büsche herausfunkelten. Es war ein wundervoller Abend; klar und hell standen die Sterne am dunkelblauen Himmel, und nur leise schaukelte der Luftzug die flüsternden Wipfel der Kokospalmen, ließ die hohen zierlichen Kronen der Arekas hin und wieder schwanken und durchzitterte die hängenden Zweigmassen der Waringhis, daß sie rauschten und wogten und seltsam wechselnde Schatten warfen. Van Straaten hatte, sobald sie den Ort erreichten, ein Diner für die ganze Gesellschaft bestellt – Herrn Joost natürlich ausgenommen, der es vorzog, in der Nähe seines Gefangenen zu bleiben. Keinenfalls hätte er es wenigstens gewagt, der verwitweten Frau Valentijn Joost und jetzigen Brouw Soltersdrop wieder unter die Augen zu kommen. Van Straaten wollte eben die verschiedenen Teilnehmer zusammenrufen, denn während sich draußen schwarze Wolken zusammenballten und ein neues Unwetter heraufzog, war in dem gemütlichen, durch zahlreiche Lampen erhellten Salon die Tafel gedeckt worden, als ihn Wagner am Arm ergriff und beiseite zog.

»Mynheer van Straaten!«

»Wel, Mynheer? Sie haben Hunger, wie? Und wollen mich fragen, ob wir noch nicht bald essen?«

»Nein – das nicht«, lächelte Wagner verlegen, »nur – nur eine Frage möchte ich wegen dieses jungen Mannes an Sie richten.«

»Jungen Mannes? Sie meinen doch nicht etwa Herrn Joost?«

»Nein –« erwiderte Wagner mit einigem Zögern, »es betrifft nicht Herrn Joost, sondern diesen – Dorsek – Ihren Verwandten.«

»Und was für eine Frage?« sagte van Straaten gespannt.

»Welche Schritte man zu tun hätte und wo?« erwiderte Wagner, »um vielleicht durch Geld oder einen Ersatzmann den jungen Dorsek von seinem schlimmen Militärdienst loszukaufen.«

»Kennen Sie den jungen Dorsek genauer?«

»Ich kenne ihn gar nicht.«

»Und was, zum Henker, geht er Sie denn da an?« rief van Straaten ärgerlich. »Weiß der Teufel, um einen ordentlichen, braven Menschen kümmert sich keine Seele, und so einem liederlichen Strick wollen alle helfen!«

»Aber Sie haben selber gesehen, wie stark Ihr Schwager noch an dem sonst vielleicht verlorenen Menschen hängt«, sagte Wagner leise, »es hat mich richtig ergriffen, wie gerührt der sonst so eiserne Mann bei dem Gedanken schien, dem Sohn seiner verstorbenen Schwester noch beizustehen.«

»So?« sagte van Straaten und sah Wagner mit einem forschenden Blick von der Seite an. »Nur Martijns wegen wollen Sie dem Musjö helfen, der in Deutschland sein Vermögen durchgebracht hat und jetzt, seiner eigenen Familie zur Schande, als gemeiner Soldat nach Java kommt? Aber mit dem Mädchen selber mochten Sie deshalb nicht sprechen?«

»Lieber Herr van Straaten, Sie werden mir zugestehen, daß da...«

»Was da – gar nichts gestehe ich Ihnen zu!« rief aber van Straaten, »und noch dazu vor Tisch. Ich kenne jetzt Ihren Wunsch und will mir die Sache überlegen; nun lassen Sie mich aber vor dem Essen mit allen weiteren Fragen ungeschoren. He, Martijn – he, Doortje van Straaten!« rief er, an die verschiedenen Türen gehend. »Heraus mit euch, denn die Suppe wird kalt und der Wein warm – Mesdames, ich muß bitten, Ihre Toilette ein klein wenig zu beschleunigen, denn Mynheer Wagenaar ist so hungrig, daß er schon wie ein Tiger um den Tisch herumschleicht.«

Lachende Stimmen antworteten ihm; bald öffneten sich ringsherum die Türen, und die kleine fröhliche Gesellschaft versammelte sich um die reichbesetzte Tafel.

Das Gespräch wechselte dazu bald hier, bald da hinüber, und vor allen Dingen wurde der heutige Zwischenfall besprochen, der ihre Fahrt in die Teeplantage verhinderte. Aber »aufgeschoben sei nicht aufgehoben«, meinte van Straaten, und morgen, noch in der kühlen Zeit, wollten sie von hier aus das Versäumte nachholen – falls die Damen damit zufrieden wären, ihn allein als Fremdenführer zu behalten.

»Und die anderen Herrn wollen uns verlassen?« fragte Hedwig zögernd.

»Bitte um Verzeihung«, fiel hier Salomon Holderbreit ein, »ich für meinen Teil habe nicht die mindeste derartige Absicht und bin mit dem größten Vergnügen bereit, Sie morgen früh wieder, wohin Sie wollen, zu begleiten.«

»Das können Sie machen«, lachte Lockhaart, »freilich müssen Sie sich dazu einen eigenen Wagen nehmen, und Postpferde sind verwünscht teuer. Ihre Missionsgesellschaft wird aber gewiß nichts dagegen haben, wenn Sie die Ihnen anvertrauten Gelder dazu verwenden, Damen in die Berge zu begleiten und sie vor den Gefahren zu beschützen, die ihnen dort von den Heiden drohen könnten.«

»Sie mahnen mich zur rechten Zeit an meine Pflicht, Mynheer Lockhaart«, sagte Holderbreit, der nur mühsam die Kränkung verbiß, vor den Damen in solcher Weise zurechtgewiesen zu werden. »Übrigens sollten Sie bedenken, daß es mit zu meinem Beruf gehört, Land und Sitten des Volkes vorher zu studieren, das ich von seinem Unglauben heilen möchte. In der Stube lerne ich aber weder das Volk im ganzen noch einzelne Individuen kennen, und es ist durchaus möglich, daß ich auch meiner Pflicht folge, wenn ich jede sich mir bietende Gelegenheit ergreife, diesem Ziel gerade entgegenzuwirken.«

»Sie müssen das nicht so genau nehmen, was der alte Brummbär da aus sich herausknurrt«, beschwichtigte aber van Straaten den Geistlichen, denn es tat ihm leid, den Mann unverschuldeterweise gekränkt zu sehen. Lockhaart lachte still vor sich hin, aber er ergriff das vor ihm stehende Glas, hob es, sah darüber hinweg auf Holderbreit, nickte ihm zu und leerte es auf einen Zug, und Salomon Holderbreit tat ihm mit Vergnügen Bescheid bei dem, was er vielleicht nicht zu Unrecht für einen Versöhnungstrunk hielt.

»Aber Sie essen ja gar nicht«, sagte Hedwig lächelnd zu dem neben ihr sitzenden Wagner, »und doch behauptete Herr van Straaten vorhin, daß Sie einen so entsetzlichen Hunger hätten.«

»Er hat mich wahrscheinlich vorgeschoben«, erwiderte Wagner zerstreut, aber freundlich, »gerade heute abend habe ich wenig oder gar keinen Appetit.«

»Sind Sie krank?«

»Nein«, sagte Wagner gleichgültig, und erst als er die Frage beantwortet hatte, fühlte er, wie viel Teilnahme darin lag, und er machte sich Vorwürfe, sie so kurz abgefertigt zu haben.

Lockhaart hatte sein Glas geleert und gab das Zeichen zum Aufstehen, indem er sich von seinem Stuhl erhob. Die übrigen folgten rasch seinem Beispiel, und van Straaten schlug den Damen noch einen Spaziergang in der Abendkühle vor, da sich das Gewitter verzogen hatte. Seine Frau entschuldigte sich aber – er hatte ihr vorher gesagt, daß er etwas mit Hedwig besprechen müsse. Sie wanderte bald mit ihrer alten Kathrine an seiner Seite unter den mächtigen Waringhis dahin, die ein Stück die Straße hinab den großen vor dem Haus des Residenten gelegenen Platz umschlossen.


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