Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Ludwig Uhland

Es ist ein hoher Baum gefallen,
Ein Baum im deutschen Dichterwald;
Ein Sänger schied, getreu vor allen,
Von denen deutsches Lied erschallt.
Wie stand mit seinem keuschen Psalter
Im jüngern Schwarm er stolz und schlicht!
Ein Meister und ein Held, wie Walter,
Und rein sein Schild wie sein Gedicht.

Wohl Größre preist man unser eigen,
Um deren Stirnen ewig grün
Im Kranz, gewebt aus Eichenzweigen,
Die Lorbeern der Hellenen blühn;
Doch keiner sang in unsrer Mitte,
Der, so wie er, unwandelbar
Ein Spiegel vaterländ'scher Sitte,
Ein Herold deutscher Ehren war.

Drum, wenn wir seinen Weisen lauschen,
Umweht es uns wie Heimatluft,
Wir hören deutsches Waldesrauschen,
Wir atmen deutschen Maienduft.
Die Herrlichkeit verschollner Tage
Steigt mondbeglänzt vor uns herauf,
Uns geht beim Waldhornruf der Sage
Das Herz in süßem Schauder auf.

Und wenn mit männlich ernstem Fodern
Sein Lied nach Freiheit ruft und Recht,
Auch das ist deutschen Geistes Lodern,
Beharrlich, prunklos, stark und echt.
Es lehrt uns – was das Schicksal sende –
Dem Weltlauf fest ins Auge schaun;
Es lehrt uns treu sein bis ans Ende
Und auf der Zukunft Sterne traun.

Und forschen wir, wie vom Beginne
Der Sprache zweigend Erz gediehn,
Und was der Väter gläub'gem Sinne
Als uralt heilig Bild erschien:
Er hat den rechten Schacht gefunden,
Er trägt auf vielgewundner Bahn
Durchs Labyrinth der Götterkunden
Die Fackel deutend uns voran.

So wob er schon in unsre Jugend
Des Liedes Schmuck, der Sage Lust,
So reift' er zu entschloßner Tugend
Den Freiheitsdrang in unsrer Brust.
So stand er, deutschen Reichtums Wächter,
In sinnverwelschter Zeiten Lauf,
Und huld'gend schauten drei Geschlechter
Zu seiner stillen Hoheit auf.

Er schied; es bleibt der Mund geschlossen,
So karg im Wort, im Lied so klar,
Der Mund, draus nie ein Spruch geflossen,
Der seines Volks nicht würdig war.
Doch segnend waltet sein Gedächtnis,
Unsterblich fruchtend um uns her;
Das ist an uns sein groß Vermächtnis,
So treu und deutsch zu sein wie er.

Emanuel Geibel (1862)

 


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