Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Antigone

Düstern Blicks, mit bleichen Wangen
Kommt die fürstliche Gestalt,
Kommt Antigone gegangen,
Schwarz vom Trauerkleid umwallt;
Ihren Bruder zu begraben
Geht die edle Frevlerin,
Gottgelassen, still erhaben
Nach dem Leichenfelde hin.

Nicht der Schwester Liebesbitte,
Nicht des Königs Machtgebot
Hemmt ihr die entschloßnen Schritte,
Nicht der angedrohte Tod;
Nicht die Liebe des Verlobten,
Nicht das bräutlich nahe Glück
Hält den Sinn der Treuerprobten
Auf dem Weg der Pflicht zurück.

»Was mir Gott ins Herz geschrieben,
Das ist mir Gesetz und Pflicht;
Ich bin da, um mitzulieben,
Mitzuhassen ziemt mir nicht.
Freunden Treue, Ruh' den Toten,
Frieden auch dem Feind im Grab, –
Das ist's, was ein Gott geboten,
Eh' ein Fürst Gesetze gab!

Durft' ich einst auf dunklem Pfade
Führerin dem Vater sein.
Bis versöhnt durch späte Gnade
Er entschlief im heil'gen Hain:
Sollt' ich nun den Bruder lassen
Hingestreckt im Todesstaub?
Eher will ich selbst erblassen.
Eh' er sei der Hunde Raub!

Was er frevelnd auch verbrochen
An dem heil'gen Vaterland,
Von dem Todesspeer durchstochen
Büßt' er's durch des Bruders Hand;
Die im Leben wild sich hassen.
Werden sich im Tode gleich.
Wandeln friedlich und gelassen
Hand in Hand im Schattenreich.

Lieblich wär's und schön gewesen.
Nach der Jugend herbem Los
Noch zu spätem Glück genesen
In der Liebe holdem Schoß,
Aber aus dem Arm des Gatten,
Aus der goldnen Himmelsluft
Abwärts winken teure Schatten
Und mein Brautbett ist die Gruft!«

Und sie geht, den Guß zu spenden.
Der des Bruders Staub gebührt.
Und sie kommt, von Henkershänden
Als ein Opferlamm geführt;
Wie der Mond in Wolkenschauern
Schwindet sie am Felsenhang,
Und in finstern Grabesmauern
Leis verhallt ihr Sterbgesang.

Karl Gerok

 


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