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»Unter den Linden«

Heute spaziert' ich unter den Linden,
Um Menschen zu sehn, Bekannte zu finden,
Und treffe auch die ganze Welt,
Als hätte sie sich hierher bestellt.
Asien selbst mit den gelben Söhnen
Wandelt vergnügt zwischen märkischen Schönen;
Welch ein Gemisch, bescheiden und stolz.

Wo kommt der Rauch her, wie brennendes Holz?
Im Vorüber entdeck' ich in einem Tor:
Ist die Leitung geplatzt? ein Wasserrohr?
Glutbecken, Hammer und Blei verrieten,
Daß sie den kleinen Schaden vernieten.
Als den Rauch ich roch im Straßenlärm,
Versank ich plötzlich ins bunte Geschwärm:

Von trocknem Tann ist ein Feuer entfacht
Auf der Feldwache in kalter Winternacht.
Ich starr' in die Flammen und wärme die Hände
Und freu' mich der wachsenden Tageswende.
Die Ablösung kommt, ihr Führer voran,
Den schon vor Jahren zum Freund ich gewann.
Ernste Gedanken und fröhliche Stunden
Haben im Leben uns eng verbunden.

Wir beide, daß ich ihn unterweise
Über den Feind im umgebenden Kreise,
Lassen die Posten im Nebelgrauen
Und gehen weit vor, um besser zu schauen.
Unendliche Stille, unendlich leer,
Das Schneetuch ein Laken ringsumher.
Nur eine Mühle vor uns im Land
Qualmt noch immer vom gestrigen Brand.

Da fällt, mitten in meinem Berichte,
Ein Schuß – ein Wölkchen an jener Fichte.
Mein Kamerad greift sich ans Kerz so schnell.
Ein dunkles Tröpfchen, ein winziger Quell.
In Eil' umfaß ich ihn, er sinkt,
Leg' sanft ihn zur Erde, der Tod hat gewinkt.
Das rote Blut auf dem weißen Schnee
Sticht trostloser ab als im grünen Klee.

Im Westen die Mühle qualmt düster empor,
Im Osten die Sonne blitzt blendend hervor.
Bald bilden Gewehre die Trauerbahr,
Soldatenarm hält ihm das blonde Haar.
Am Feuer der Feldwache liegt er gestreckt,
Kein Bitten, kein Rütteln hat ihn geweckt.
Es knistert, der Rauch umzieht mein Gesicht,
Leb wohl, Kamerad, ich vergesse dich nicht.

Unter den Linden, vorbei ist der Spaß,
Ich trinke bei Hiller ein stilles Glas,
Ein stilles Glas auf ein fernes Grab,
Dann wieder ins Leben, bergauf, bergab.

Detlev von Liliencron

 


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