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Graf Richard Ohnefurcht

Graf Richard von der Normandie
Erschrak in seinem Leben nie.
Er schweifte Nacht wie Tag umher.
Manchem Gespenst begegnet' er:
Doch hat ihm nie was Graun gemacht
Bei Tage noch um Mitternacht.
Weil er so viel bei Nacht tät reiten,
So ging die Sage bei den Leuten,
Er seh' in tiefer Nacht so licht,
Als mancher wohl am Tage nicht.
Er pflegte, wenn er schweift' im Land,
So oft er wo ein Münster fand,
Wenn's offen war, hineinzutreten,
Wo nicht, doch außerhalb zu beten.
So traf er in der Nacht einmal
Ein Münster an im öden Tal:
Da ging er fern von seinen Leuten,
Nachdenklich, ließ sie fürbaß reiten;
Sein Pferd er an die Pforte band,
Im Innern einen Leichnam fand.
Er ging vorbei hart an der Bahre
Und kniete nieder am Altare,
Warf auf nen' Stuhl die Handschuh' eilig,
Den Boden küßt' er, der ihm heilig.
Noch hatt' er nicht gebetet lange,
Da rührte hinter ihm im Gange
Der Leichnam sich auf dem Gestelle;
Der Graf sah um und rief: »Geselle,
Du seist ein guter oder schlimmer,
Leg' dich aufs Ohr und rühr' dich nimmer!«
Dann erst er sein Gebet beschloß,
(Weiß nicht, ob's klein war oder groß),
Sprach dann, sich segnend: »Herr! mein Seel'
Zu deinen Händen ich empfehl'.«
Sein Schwert er faßt' und wollte gehen,
Da sah er das Gespenst aufstehen,
Sich drohend ihm entgegenrecken,
Die Arme in die Weite strecken,
Als wollt' es mit Gewalt ihn fassen
Und nicht mehr aus der Kirche lassen.
Richard besann sich kurze Weile:
Er schlug das Haupt ihm in zwei Teile;
Ich weiß nicht, ob es wehgeschrien,
Doch mußt's den Grafen lassen ziehn.
Er fand sein Pferd am rechten Orte;
Schon ist er aus des Kirchhofs Pforte,
Als er der Handschuh' erst gedenkt.
Er läßt sie nicht, zurück er lenkt,
Hat sie vom Stuhle weggenommen:
Wohl mancher wär' nicht wiederkommen.

Ludw. Uhland (1810)

 


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