Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Die Ozeaniden

Wir Meereswogen sonder Rast und Ruh',
Wir brausen fort und brausen immerzu;
Das klingt und singt und dringt aus allen Gründen,
Ton muß zu Ton sich und Akkorden finden,
An ödem Strand, in nie befahrnem Meer,
Ein einzig Lied allüberall umher.

Wir singen laut vom ersten Schöpfungstag,
Da noch in uns der Keim der Erde lag,
Von Ewigkeit und ungemeßner Ferne,
Von Sonnenaufgang, Silberglanz der Sterne,
Von manchem Helden, der am Felsenstrand
Im Meeresgrund sein einsam Bette fand.

Und was wir singen in gewalt'gem Chor,
Belauschte nimmer noch ein menschlich Ohr;
Zwar mancher Schiffer kommt herangeschwommen,
Doch keiner hat's begriffen und vernommen;
Der Fischerbube hört's mit stillem Graun,
Ihn locken, denkt er, falsche Meeresfrau'n.
Doch kommt uns Antwort hoch vom Himmel her:
Die ew'gen Sterne sprechen mit dem Meer,
Melodisch tönt in unser wildes Sausen
Der Klang der Sphären und der Donner Brausen;
Von fernen Inseln aus der Wälder Ruh'
Weht uns das Rauschen heil'ger Wipfel zu.

Da wird's lebendig auf der weiten See,
Da jauchzen wir und hüpfen in die Höh';
Delphine kommen langsam angezogen
Und horchen still dem Zaubersang der Wogen,
Die alte Windsbraut redet auch darein,
Will auch im Chor der ew'gen Sänger sein.

– Die kleine Welt der Menschen treibt ihr Spiel,
Rennt auf und ab und macht des Lärmens viel;
Da kommt die Nacht und hemmt das muntre Streben,
Da kommt der Tod und löscht das junge Leben;
Wir aber brausen fort und immerzu,
Wir Meereswogen sonder Rast und Ruh'.

Robert Prutz
1816-1872

 


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