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Der gerettete Jüngling

Eine schöne Menschenseele finden,
Ist Gewinn; ein schönerer Gewinn ist
Sie erhalten; und der schönst' und schwerste,
Sie, die schon verloren war, zu retten.

Sankt Johannes, aus dem öden Patmos
Wiederkehrend, war, was er gewesen,
Seiner Herden Hirt. Er ordnet' ihnen
Wächter, auf ihr Innerstes aufmerksam.

In der Menge sah er einen schönen
Jüngling; fröhliche Gesundheit glänzte
Vom Gesicht ihm, und aus seinen Augen
Sprach die liebevolle Feuerseele.
»Diesen Jüngling«, sprach er zu dem Bischof,
»Nimm in deine Hut! Mit deiner Treue
Stehst du mir für ihn! – Hierüber zeuge
Mir und dir vor Christo die Gemeine.«

Und der Bischof nahm den Jüngling zu sich,
Unterwies ihn, sah die schönsten Früchte
In ihm blühn, und weil er ihm vertraute,
Ließ er nach von seiner strengen Aufsicht.

Und die Freiheit war ein Netz des Jünglings:
Angelockt von süßen Schmeicheleien,
Ward er müßig, kostete die Wollust,
Dann den Reiz des fröhlichen Betruges,
Dann der Herrschaft Reiz; er sammelt' um sich
Seine Spießgesellen, und mit ihnen
Zog er in den Wald, ein Haupt der Räuber.

Als Johannes in die Gegend wieder
Kam, die erste Frag' an ihren Bischof
War: »Wo ist mein Sohn?« – »Er ist gestorben!«
Sprach der Greis und schlug die Augen nieder.
»Wann und wie?« – »Er ist Gott abgestorben,
Ist (mit Tränen sag' ich es) ein Räuber.«

»Dieses Jünglings Seele«, sprach Johannes,
»Fordr' ich einst von dir. Jedoch wo ist er?« –
»Auf dem Berge dort« – »Ich muß ihn sehen!«
Und Johannes, kaum dem Walde nahend,
Ward ergriffen; eben dieses wollt' er.
»Führet«, sprach er, »mich zu eurem Führer!«

Vor ihn trat er. Und der schöne Jüngling
Wandte sich; er konnte diesen Anblick
Nicht ertragen. »Fliehe nicht, o Jüngling,
Nicht, o Sohn, den waffenlosen Vater,
Einen Greis. Ich habe dich gelobet
Meinem Herrn und muß für dich antworten.
Gerne geb' ich, willst du es, mein Leben
Für dich hin; nur dich fortan verlassen
Kann ich nicht! Ich habe dir vertrauet,
Dich mit meiner Seele Gott verpfändet.«
Weinend schlang der Jüngling seine Arme
Um den Greis, bedeckete sein Antlitz,
Stumm und starr; dann stürzte statt der Antwort
Aus den Augen ihm ein Strom von Tränen.

Auf die Kniee sank Johannes nieder,
Küßte seine Hand und seine Wange,
Nahm ihn neugeschenket vom Gebirge,
Läuterte sein Herz mit süßer Flamme.

Jahre lebten sie jetzt unzertrennet
Miteinander; in den schönen Jüngling
Goß sich ganz Johannes' schöne Seele. –
Sagt, was war es, was das Herz des Jünglings
Also tief erkannt' und innig festhielt
Und es wiederfand und unbezwingbar
Rettete? Ein Sankt-Johannes-Glaube,
Zutraun, Festigkeit und Lieb' und Wahrheit.

Johann Gottfried Herder (1795 ?)

 


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