Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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König Karls Meerfahrt

Der König Karl fuhr über Meer
Mit seinen zwölf Genossen,
Zum Heil'gen Lande steuert' er
Und ward vom Sturm verstoßen.

Da sprach der kühne Held Roland:
»Ich kann wohl fechten und schirmen.
Doch hält mir diese Kunst nicht stand
Vor Wellen und vor Stürmen.«

Dann sprach Herr Holger aus Dänemark:
»Ich kann die Harfe schlagen –
Was hilft mir das, wenn also stark
Die Wind' und Wellen jagen?«

Herr Oliver war auch nicht froh,
Er sah auf seine Wehre:
»Es ist mir um mich selbst nicht so,
Wie um die Altecläre.«Altecläre ( alta clara, Hauteclaire) hieß Olivers berühmtes Schwert.

Dann sprach der schlimme Ganelon,
(Er sprach es nur verstohlen):
»Wär' ich mit guter Art davon,
Möcht' euch der Teufel holen.«

Erzbischof Turpin seufzte sehr:
»Wir sind die Gottesstreiter,
Komm, liebster Heiland, über das Meer
Und führ' uns gnädig weiter!«

Graf Richard Ohnefurcht hub an:
»Ihr Geister aus der Hölle,
Ich hab' euch manchen Dienst getan:
Jetzt helft mir von der Stelle!«

Herr Naimes diesen Ausspruch tat:
»Schon vielen riet ich heuer,
Doch süßes Wasser und guter Rat
Sind oft zu Schiffe teuer.«

Da sprach der graue Herr Riol:
»Ich bin ein alter Degen
Und möchte meinen Leichnam wohl
Dereinst ins Trockne legen.«

Es war Herr Gui, ein Ritter fein,
Der fing wohl an zu singen:
»Ich wollt', ich wär' ein Vögelein,
Wollt' mich zum Liebchen schwingen.«

Da sprach der edle Graf Garein:
»Gott helf uns aus der Schwere!
Ich trink' viel lieber den roten Wein
Als Wasser in dem Meere.«

Herr Lambert sprach, ein Jüngling frisch:
»Gott woll' uns nicht vergessen!
Äß' lieber selbst 'nen guten Fisch,
Statt daß mich Fische fressen.«

Da sprach Herr Gottfried lobesan:
»Ich laß mir's halt gefallen;
Man richtet mir nicht anders an
Als meinen Brüdern allen.«

Der König Karl am Steuer saß;
Der hat kein Wort gesprochen:
Er lenkt das Schiff mit festem Maß,
Bis sich der Sturm gebrochen.

Ludw. Uhland (1812)

 


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