Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Abends bei Goethe

Vgl. Gespräche mit Goethe. Von J.P. Eckermann. III. Bd. 8. Oktober 1827.

Die Abendsonne sank, und in dem Zimmer,
Wo Goethe seine Geisteswerke wirkte,
Da flammten nunmehr auf dem runden Tische
Zwei Kerzen auf, obwohl vom offnen Fenster
Der Rest des Tageslichtes noch hereinfiel.
Jedoch im Dämmerlicht konnt' man nicht lesen,
Auch nicht in Mappen Bilderschätze sehen,
Und darum mußte Licht der Diener bringen.

Am Tische saß der Dichterfürst von Weimar,
Schon angetan mit weiß flanellnem Schlafrock,
Auf dem das Licht der Kerzen freundlich glänzte,
Und gegenüber Eckermann, Vertrauter
Und Werkgenosse an so mancher Arbeit.
Gar vielerlei kam auch an diesem Abend
Dort zwischen jenen beiden noch zur Sprache
Aus all den unermessenen Gebieten
Von Kunst, Natur und schönen Wissenschaften.
Freund Eckermann erzählt dem greisen Goethe,
Man hätte ihm ein Nest mit Grasemücken
Gebracht nebst einem von den beiden Alten,
Den grausam auf der Leimrut' man gefangen.
Nun hätt' der Vogel nicht allein im Zimmer
Auch ferner seine Jungen noch gefüttert,
Nein, freigelassen aus dem offnen Fenster
Wär' zu den Jungen er zurückgekehrt.
Und solche Elternliebe, überwindend
Gefahren und Gefangenschaft, die hätte
Gar innig ihn bewegt und in Erstaunen
Gesetzt, das wollt' er Goethen doch erzählen.
Und Goethe mit bedeutungsvollem Lächeln
Versetzte drauf: » Wenn Ihr an Gott nur glaubtet,
So würdet Ihr Euch darum nicht verwundern.

Beseelte Gott nicht jenen kleinen Vogel
Mit diesem Triebe gegen seine Jungen,
Und ginge nicht das gleiche durch das Leben
In der Natur, die Welt könnt' nicht bestehen!
So aber ist die Gotteskraft verbreitet
Allüberall, und ebenso auch wirksam,
Wohin man immer sieht, die ew'ge Liebe.«

Der Dichter schwieg, und Eckermann, ergriffen
Noch von der Wahrheit dessen, was er hörte,
Erhob sein Glas, gefüllt mit edlem Rheinwein,
Und trank dem Alten zu, ganz ohne Worte,
Indessen übern Wein hin seine Blicke
Nur in des Dichterfürsten Augen ruhten.

Walter Domansky

 


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