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Die Walküren

Eine Vision

Gewonnen die Schlacht;
Verstummt nun endlich
Der tosende Kampflärm.
Heimwärts ziehn nach heißem Ringen
Die müden Streiter
Mit ernstem Gesang.
Im Nachtwind flattern die siegesstolzen
Zerfetzten Fahnen.

Über die blutgetränkte Walstatt
Blickt noch einmal die scheidende Sonne,
Schmerzgerötet,
Das weinende Mutterauge der Welt
Mit goldnen, tränenfeuchten Wimpern.
Und es trifft ihr Scheideblick
Voll unaussprechlicher Wehmut
Auf die bleichen Wangen toter Helden
Und auf stöhnend Sterbende.
Nun dunkelt's; es schließt sich das Auge der Welt.
Noch ein leises Ächzen; dann Grabesstille.

Jetzt kommt die Nacht
Langsam und feierlich
Im schwarzen Trauergewand geschritten;
Sie neigt sich und breitet mit sorgender Hand
Die weißen Nebel, den Leichenschleier
Über das blutige Mordgefild,
Über die blassen Leichen.
Und die Winde erbrausen und singen
In wildem Chor
Ein jammerndes Klagelied
Voll tiefen, ungeheuren Schmerzes:

»Tot! Tot!
Für immer dahin!
Aus der Blüte des Lebens blutig gerissen!
Nimmer erblickst du die greisen Eltern,
Die deiner harren in ferner Heimat,
Sorgengebeugt,
Kummerbleich,
Zitternden Hauptes,
Gebete murmelnd.
Nimmer umfängst du das liebende Weib.
Sie vernimmt erstarrend die Schreckenskunde.
Und in wahnsinnigem Schmerz aufschreiend
Rauft sie das Haar
Und wirft sich verzweifelnd,
An den Göttern irre,
Über die schutzlos weinenden Kleinen. –
Zerrissen das Glück!
Zerrissen das Leben!
Tot! Tot!«

Hörst du's? Doch sieh!
Da ballt sich's über der Fläche,
Gestaltet und regt sich,
Und aus den dampfenden Nebelstreifen
Wachsen empor
Wunderbare Hünengestalten,
Luftgebild,
Gewaltige Jungfrau'n, schauerlich schön,
Stolzen Hauptes,
In grauer Rüstung und wehendem Mantel;
Gefolgt von geflügelten Riesenrossen
Mit flatternden Mähnen;
Sie schreiten lautlos und geisterbleich
Mit langen Schleppen über das Schlachtfeld.
Das sind die Walküren!

Sie neigen sich hier und neigen sich dort
Zu den blassen, blutigen Leichen nieder,
Umfassen wärmend die starren Glieder,
Küssen die marmorkalte Stirn,
Hauchen an die gebrochnen Augen
Und reden die Toten an.
Hörst du sie sagen? Hörst du sie singen
In längst verschollnen, uralten Lauten
Beschwörungslieder,
Zaubergewaltig?

»Auf! Auf!
Erwache! Sei munter!
Du mannlicher Held,
Du toter Sieger.
Den edelsten Tod bist du gestorben.
Bist nun erlöst vom Erdenleben,
Da du's verachtet.
Bist ledig der Qual und ärmlichen Sorge
Ums tägliche Brot, um nichtige Ehren.
Erwache wieder in meinen Armen

Zu wahrem Leben!
Ich führ' dich empor zu seligen Geistern,
Die Deiner schon harren in himmlischem Raum,
Den ewig verjüngenden Labebecher
Sel'gen Vergessens
Dir darzubieten.
Von dessen Genuß du erquickt, begeistert
Not, Tod, Neid, Streit
Und irdische Plage
Vergessen wirst.
Erwache! Sei munter!
Auf! Auf!«

Und unter dem göttlich belebenden Hauch
Am Busen der Jungfrau
Beginnt zu schlagen das Herz des Toten;
Die verstummten Lippen
Regen sich wieder, tief aufseufzend;
Die starren, gebrochnen Totenaugen
Sie werden lebendig
Und schauen verwundert fragend, so erdenfremd
Um sich,
Empor zu der Lebenbringerin,
Die ihn umfangen hält
An ihrem Herzen.
Sie aber hebt ihn mit Riesenstärke,
Hüllt ihn ein wie ein Kind
In des weiten Mantels schützenden Falten
Und schwingt sich aufs Roß,
Das göttlich edle Tier bäumt sich empor,
Stolz aufwiehernd und jauchzend.

Und es rauschen die Schwingen,
Und mutig schnaubend
Steigen empor in gigantischem Sprung,
In brausendem Flug die Geisterrosse
Mit ihren Reitern
Auf und davon! –
Wohin?

Sieh! Hoch im Norden lodert's feurig,
In dunkler Glut eine Strahlenkrone
Weithin über den Himmelsbogen,
Gleichwie von ungeheurem Weltbrand.
Dorthin eilen sie.
Nach Walhalla.

Otto Liebmann

 


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