Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Sonnenaufgang im Mai

Kommt, Kinder, wischt die Augen aus,
   Es gibt hier was zu sehen,
Und ruft den Vater auch heraus:
    Die Sonne will aufgehen!

Wie ist sie doch in ihrem Lauf
   So unverzagt und munter,
Geht alle Morgen richtig auf
   Und alle Abend unter!

Geht immer und scheint weit und breit,
   In Schweden und in Schwaben,
Dann kalt, dann warm, zu seiner Zeit,
   Wie wir es nötig haben.

Von ungefähr kann das nicht sein,
   Das könnt ihr wohl gedenken;
Der Wagen da geht nicht allein,
   Ihr müßt ihn ziehn und lenken.

So hat die Sonne nicht Verstand,
   Weiß nicht, was sich gebühret;
's muß einer sein, der an der Hand
   Gleichwie ein Lamm sie führet.

Und der hat Gutes nur im Sinn,
   Das kann man bald verstehen;
Er schüttet seine Wohltat hin
   Und lasset sich nicht sehen;

Und hilft und segnet für und für,
   Gibt jedem seine Freude,
Gibt uns den Garten vor der Tür
   Und unsrer Kuh die Weide;

Und hält euch Morgenbrot bereit
   Und läßt euch Blumen pflücken
Und stehet, wann und wo ihr seid,
   Euch heimlich hinterm Rücken;

Sieht alles, was ihr tut und denkt,
   Hält euch in seiner Pflege,
Weiß, was euch freut und was euch kränkt,
   Und liebt euch allewege.

Das Sternenheer hoch in der Höh',
   Die Sonne, die dort glänzet,
Das Morgenrot, der Silbersee,
   Mit Busch und Wald umkränzet,

Dies Veilchen, dieser Blütenbaum,
   Der seine Arm' ausstrecket,
Sind Kinder, seines Kleides Saum,
   Das ihn vor uns bedecket;

Ein Herold, der uns weit und breit
   Von ihm erzähl' und lehre,
Der Spiegel seiner Herrlichkeit,
   Der Tempel seiner Ehre;

Ein mannigfaltig groß Gebäu,
   Durch Meisterhand vereinet,
Wo seine Lieb' und seine Treu'
   Uns durch die Fenster scheinet.

Er selbst wohnt unerkannt darin
   Und ist schwer zu ergründen.
Seid fromm und sucht von Herzen ihn,
   Ob ihr ihn möget finden!

Matthias Claudius

 


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