Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Aus den Liedern aus Frankreich. 1870

Von einem deutschen Soldaten

Wir saßen am Grabenhange
Und horchten im Dämmerschein
Unsrer Leute kunstlosem Gesange –
Sie sangen »die Wacht am Rhein«.

Bisweilen nur kam dazwischen
Ein Schuß herübergedröhnt,
Auch ab und zu wohl ein Zischen –
Doch waren wir lang dran gewöhnt.

An den goldenen Wolkensäumen
Verblich der funkelnde Rand,
Eine Stunde war's, zu träumen
Von der Liebe im Heimatland.

Und träumerisch sprach er leise
Von unserer Wacht am Rhein,
Es schlich wohl von drüben die Weise
In seine Gedanken sich ein:

»Halt' ich für meinen Jungen«,
Sprach er, »doch mit hier Wacht,
Daß endlich aus Dämmerungen
Ein voller Tag ihm lacht,

Daß nicht sein Blut er vergießen
Einst muß fürs Vaterland,
Daß glücklich er genießen –«
Abbrechend drückte die Hand

Aufs Herz er schweigsam und legte
Den Kopf zurück an den Wall,
Während stumm sich im Herzen mir regte
Seiner Worte Widerhall.

Er schwieg noch immer; ich sandte
Einen Blick durch die dämmernde Rund',
Eh' ich fragend mich zu ihm wandte –
Da starb das Wort mir im Mund.

Was fühlt' ich's plötzlich klopfen
In der Brust so wahnsinnstoll?
Was war's für ein roter Tropfen,
Der dort unterm Finger ihm quoll?

Ich sprang auf ihn zu und riß ihm
Die Hand fort, unbewußt –
Da ging ein runder Spliß ihm
Durch den Rock, links unter der Brust.

Den hatt' eine Kugel geschnitten
Gradaus, bis ins Herz hinein –
Durch die Nacht herüber noch glitten
Die Klänge der »Wacht am Rhein«.

Wilhelm Jensen

 


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