Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Das Spinnlein

I. Alemannisch

Nei, lueget doch das Spinnli a,
Wie's zarti Fäde zwirne cha!
Bas Gvatter, meinsch, chasch's au ne so?
De wirsch mer's, traui, blibe lo.
Es macht's so subtil und so nett,
I wott nit, aß i 's z'hasple hätt.

Wo het's di fini Riste g'no,
Bi wellem Meister hechle lo?
Meinsch, wemme 's wüßt, e mengi Frau,
Sie wär so gscheit und holti au!
Jez lueg mer, wie's si Füeßli sezt,
Und spinne will, und d'Finger nezt.

Es zieht e lange Faden us,
Es spinnt e Bruck ans Nochbers Hus,
Es baut e Landstroß in der Luft,
Morn hangt sie scho voll Morgeduft,
Es baut e Fueßweg nebe dra,
's isch, aß es ehne dure cha.

Es spinnt und wandlet uf und ab,
Potz tausig, im Galopp und Trab! –
Jez goht's ring um, was hesch, was gisch!
Siehsch, wie ne Ringli worden isch!
Jez schießt's die zarte Fäden i.
Wirds öbbe solle gwobe sy?

Es isch verstuunt, es haltet still,
Es weiß nit recht, wo 's ane will.
's goht weger z'ruck, i sieh's em a:
's mueß näumis rechts vergesse ha.
Zwor, denkt es: »Sel pressiert io nit,
I halt mi nummen uf dermit.«

Es spinnt und webt und het kei Rast,
So gliichlig, me verluegt si fast.
Und 's Pfarrers Christoph het no gseit,
's feig iede Fade z'seme gleit.
Es mueß ein guetli Auge ha,
Wers zehlen und erchenne cha.

Jez putzt es sini Händli ab,
Es stoht und haut der Faden ab.
Jez sizt es in si Summerhus
Und luegt die lange Stroßen us.
Es seit: »Me baut si halber z'Tod,
Doch freuts ein au, wenn 's Hüsli stoht.«

In freie Lüfte wogt und schwankt's,
Und an der liebe Sunne hangt's;
Sie schint em frei dur d'Beinli dur,
Und 's isch em wohl. In Feld und Flur
Sieht 's Mückli tanze iung und feiß;
's denkt bi nem selber: »Hätti eis!«

O Tierli, wie hesch mi verzückt!
Wi bisch so chlei und doch so gschickt!
Wer het di au die Sache glehrt?
Denkwol, der, wonis alli nährt,
Mit milde Händen alle git.
Bis z'frieden! Er vergißt di nit.

Do chunnt e Fliege, nei wie dumm!
Sie rennt em schier gar 's Hüsli um.
Sie schreit und winslet Weh und Ach!
Du arme Chetzer hesch di Sach!
Hesch keini Auge bi der g'ha?
Was göhn di üse Sachen a?

Lueg, 's Spinnli merkts enanderno,
Es zuckt und springt und het sie scho.
Es denkt: »I ha viel Arbeit g'ha,
Jez mußi au ne Brotis ha !"
I sags io: Der, wo alle git,
Wenn's Zit isch, er vergißt di nit.

Joh. Peter Hebel

 

II. Hochdeutsch

Nein, seht mir doch das Spinnlein an,
Wie's zarte Fäden zwirnen kann!
Gelt, Base, das verstehst du nicht?
Ich sag' es dreist dir ins Gesicht.
Es macht's so niedlich und so nett;
Möcht' nicht, daß ich's zu haspeln hätt'.

Wo nahm's den Flachs so zart und fein?
Bei wem mag er gehechelt sein?
Gar manche Frau, das glaube mir,
Ging' auch dahin, wenn man's erführ'.–
Jetzt sieh mir, wie's das Füßchen setzt,
Den Ärmel streift, die Finger netzt!

Jetzt zieht's den langen Faden aus,
Zieht eine Brück' an Nachbars Haus,
Baut eine Landstraß' in der Luft,
Die morgen hängt voll frischem Duft,
Baut einen Fußsteig neben dran,
Daß hier und da es wandeln kann.

Es spinnt und wandelt auf und ab,
Potztausend im Galopp und Trab! –
Jetzt geht's ringsum – wo an, wo aus? –
Nun bildet sich ein Ringlein draus!
Jetzt schießt es zarte Fäden ein;
Soll's etwa gar gewoben sein?

Jetzt ist's erstaunt, jetzt hält es still
Und weiß nicht recht, wohin es will;
Es geht zurück, man sieht's ihm an,
Was Wicht'ges fehlt ihm noch daran.
Doch denkt's: »Es hat damit nicht Eil',
Ich halte mich nur auf derweil.«

Es spinnt und webt ohn' Ruh und Rast
Allüberall, man staunet fast.
Des Pfarrers Hans sagt obendrein,
Zehnfach soll jeder Faden sein;
Doch glaub' ich's nicht; denn sagt mir an,
Wes Aug' es sehn und zählen kann.

Jetzt putzt es seine Händchen ab,
Steht still und haut den Faden ab;
Jetzt sitzt's in seinem Sommerhaus,
Schaut auf die lange Straß' hinaus
Und spricht: »Man baut sich fast zu Tod;
Doch steht das Haus, ist all die Not!«

Es wogt und schwankt in freier Luft,
Im Sonnenstrahl, im weichen Duft,
Und jeder Strahl umspielt es frei –
Dem Spinnlein ist so wohl dabei.
Es sieht dem Tanz der Mücklein zu
Und denkt sich: »Käm' doch eins herzu!«

O Tierlein, hast mein Herz entzückt;
So klein und dennoch so geschickt!
Wer hat dich solche Kunst gelehrt?
Ich denk', Er, der uns alle nährt,
Der mild und gnädig alle liebt
Und, glaub's, auch dir dein Teilchen gibt.

Sieh da die Fliege! Nein, wie dumm!
Sie rennt ihm fast das Häuschen um.
Nun fleht und schreit sie Weh und Ach!
Ja, Ketzerin, du treibst's danach!
Mit offnen Augen muß man sehn
Und nie in fremde Grenzen gehn.

Schau' nur! das Spinnlein merkt's geschwind,
Es zuckt, es springt – hat's wie der Wind
Und denkt: »Ich hatte Müh' und Not,
Nun schmeckt mir auch mein Abendbrot.«
Drum sag' ich ja: »Zur rechten Frist
Sorgt Gott, der keinen je vergißt.«

(Übersetzt von Echtermeyer)

 


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