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Die wiedergefundenen Söhne

Was die Schickung schickt, ertrage!
Wer ausharret, wird gekrönt.
Reichlich weiß sie zu vergelten,
Herrlich lohnt sie stillen Sinn.
Tapfer ist der Löwensieger,
Tapfer ist der Weltbezwinger,
Tapfrer, wer sich selbst bezwang.

Plazidus, ein edler Feldherr,
Reich an Tugend und Verdienst,
Beistand war er jedem Armen,
Unterdrückten half er auf.
Wie er einst den Feind bezwungen,
Wie er einst das Reich gerettet,
Rettet' er, wer zu ihm floh.

Aber ihn verfolgt' das Schicksal,
Armut und der Bösen Neid.
»Laß dem Neid uns und der Armut
Still entgehn!« sprach Plazidus;
Auf! laß uns dem Fleiße dienen!«
Sprach sein Weib; »und gute Knaben,
Tapfre Knaben, folget uns!«

Also gingen sie; im Walde
Traf sie eine Räuberschar,
Trennet Vater, Mutter, Kinder –
Lange sucht der Held sie auf;
Plazidus, rief eine Stimme
Ihm im hochbeherzten Busen,
Dulde dich! du findest sie.

Und er kam vor eine Hütte.
»Kehre, Wandrer, bei mir ein!«
Sprach der Landmann, »du bist traurig;
Auf! und fasse neuen Mut!
Wen das Schicksal drückt, den liebt es;
Wem's entzieht, dem will's vergelten;
Wer die Zeit erharret, siegt.«

Und er ward des Mannes Gärtner,
Dient' ihm unerkannt und treu.
Pflegend tief in seinem Herzen
Eine bittre Frucht, Geduld.
Plazidus, rief eine Stimme
Ihm im tiefbedrängten Busen,
Dulde dich! du findest sie.

So verstrichen Jahr' auf Jahre,
Bis ein wilder Krieg entsprang.
»Wo ist Plazidus, mein Feldherr?«
Sprach der Kaiser, »suchet ihn!«
Und man sucht' ihn nicht vergebens;
Denn die Prüfzeit war vorüber.
Und des Schicksals Stunde schlug.

Zween seiner alten Diener
Kamen vor der Hütte Tür,
Sahn den Gärtner und erkannten
An der Narb' ihn im Gesicht,
An der Narbe, die dem Feldherrn
Statt der Schätze, statt der Lorbeern
Einzig blieb als Ehrenmal.

Alsobald ward er gerufen;
Es erjauchzt' das ganze Heer.
Vor ihm ging der Feinde Schrecken,
Ihm zur Seite Sieg und Ruhm.
Stillen Sinns nahm er den Palmzweig,
Gab die Lorbeern seinen Treuen,
Seinen Tapfersten im Heer.

Als nach ausgefochtnem Kriege
Jetzt der Siegestanz begann.
Drängt mit zweeen seiner Helden
Eine Mutter sich hervor:
»Vater, nimm hier deine Kinder!
Feldherr, sieh hier deine Söhne,
Mich, dein Weib, Eugenia!

Wie die Löwin ihre Jungen,
Jagt' ich sie den Räubern ab.
Nachbarlich in dieser Hütte –
Komm und schau'! – erzog ich sie;
Glaubte dich uns längst verloren;
Deine Söhne mir statt deiner,
Deiner wert erzog ich sie.

Als die Post erscholl vom Kriege,
Rufend deinen Namen aus,
Auferweckt vom Totentraume
Rüstet' ich die Jünglinge:
Zieht! verdienet euren Vater!
Streitet unerkannt und werdet,
Werdet eures Vaters wert!

Und ich seh', sie tragen Kränze,
Ehrenkränze dir zum Ruhm,
Die du unerkannt den Söhnen,
Nicht als Söhnen, zuerkannt.
Vater, nimm itzt deine Kinder!
Feldherr, sieh hier deine Söhne
Und dein Weib Eugenia!« –

Was die Schickung schickt, ertrage;
Wer ausharret, wird gekrönt.
Plazidus, der stillgesinnte,
Lebet noch in Hymnen jetzt;
Christlich wandt' er seinen Namen:
Seinen Namen nennt die Kirche
Preisend Sankt Eustachius.

Johann Gottfried Herder (1795?)

 


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