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Die Märchenbrüder

Über Alt-Kassels Gassengewirr
Gehen die Wind' und die Wolken irr;
Um ein altertümliches Giebelhaus
Glitzern die Flocken im Schneesturmbraus.

Unter dem Dache weiß verschneit
Goldene Märchenwunderzeit,
Wo verschollen in finsterer Nacht
Deutschen Volkes Seele noch wacht.

Draußen klirrt es und schnaubt es schlimm;
Drinnen bei den Gebrüdern Grimm
In dem Stübchen, da Friede taut,
Ist es heimlich und warm und traut.

Blumenglanz am Fenster wob
Einen Frühling aus Heliotrop,
Aus Levkoien und Goldlack hell,
Wie von Elfen gezaubert schnell.

Jakob und Wilhelm, das Brüderpaar,
In Gedanken versunken gar,
Schauen die köstlichen Sagen im Geist;
Vor ihren Blicken es wandelt und gleißt!

Siehe, da kommt aus dem Märchenwald,
Aus dem verlornen, Gestalt um Gestalt!
In grau spinnendem Dämmerschein
Treten sie leis ins Gemach herein:

Dornröschen schwebt nachtwandlerisch zart,
Däumling und König Drosselbart,
Die Zwerge, Schneeweißchen und Rosenrot,
Frau Holle und der Gevatter Tod;

Aschenbrödel in staubigem Kleid
Und der Prinz mit reichem Geschmeid,
Hänsel und Gretel sind auch im Zug,
Der umrauscht von Schwänen und Rabenflug. –

Zaubergeblendet die Brüder noch stehn.
Atmend germanischen Urwalds Wehn ...
Horch, von der Straße tönt Peitschenknall,
Fliegender Glöcklein silberner Schall.

Über den Schnee, wie auf silbernem Sand,
Huscht ein Schlitten, von Hirschen bespannt,
Huscht wie ein Traum leichtfüßig hindann,
Vierzehnender, ein selten Gespann!

Vorreiter schwingen der Fackeln Gezuck,
Purpurn schimmert Schabrackenschmuck:
Also zum Karneval, wie ein Phantom,
Jagt Westfalens König Jerôme!

Standen die Brüder erst rührungbenetzt,
Balten vor Groll die Fäuste sie jetzt,
Fühlen aus leuchtender Feenwelt
Jählings zurück in die Zeit sich gestellt.

Jakob in traulichem Hausgewand
Hebt, heiß flehend, zum Himmel die Hand:
»Sonne des Herrn, laß den Märchentraum
Dieses Königs zergehen wie Schaum!

Aber laß Deutschlands Sagenquell
Sprühen und sprudeln erfrischend und hell,
Daß dein Volk aus dem Bronnen, dem blau'n,
Schöpfe den Mut und das gläub'ge Vertrau'n;

Daß es voll unversieglicher Kraft
Löse die Fessel der Fremdherrschaft,
Selbst wie die Sage goldecht und schlicht!«
»Amen« Wilhelm andächtig spricht.

Heinrich Bierordt

 


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