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Mose im Nil

(2. Mose 2, 2–10)

Matt hängt die Sykomore
Ihr Laub herab zum Nil,
Und schläfrig ruht im Rohre
Das träge Krokodil;
Am schattigen Gestade
Schleicht leis die seichte Flut
Und lädt zum linden Bade
Nach heißer Tagesglut.

Was leuchtet durch die Palmen
Wie weißer Schleier Wehn?
Was rauschet in den Halmen
Wie sanfter Tritte Gehn?
Zur Kühlung, lieblich labend,
In lauer Wellen Schoß
Verlockt der goldne Abend
Die Tochter Pharaos.

Ihr funkelt von der Stirne
Der königliche Reif,
Luft fächelt ihr die Dirne
Mit buntem Pfauenschweif,
Indes den blanken Spiegel,
Den goldnen Salbenkrug,
Den Schirm vom Straußenflügel
Die Schar der Mägde trug.

Doch sieh, auf halbem Pfade
Was hält die Frau'n zurück?
Was fesselt am Gestade
Den überraschten Blick?
Im hohen Uferschilfe,
Im dicht verwachsnen Rohr,
Da wimmert's wie um Hilfe
Aus tiefer Flut empor.

Girrt in so niedrem Nestchen
Verlaßne Vogelbrut?
Nein, schau'! ein bastnes Kästchen
Wiegt leis die dunkle Flut;
Ihr Mägde bringet's näher
Und löst des Deckels Dach:
»Ein Knäblein der Hebräer!«
So tönt ihr zärtlich Ach!

Ein Knäblein, und ein feines,
Drei Monde kaum ist's alt,
Die Sonne sah noch keines
Gleich herrlich an Gestalt;
Wie königlich die Stirne,
Wie groß das Auge blickt!
Verliebt ist jede Dirne,
Die Fürstin sieht entzückt.

Sie hält das Kind umschlungen,
Das nun ihr eignes ist,
Und herrlich ist gelungen
Der Mutter kühne List,
Die hinterm Palmenstamme
Hervortritt frohbewegt
Und ihren Sohn als Amme
Zum Königsschlosse trägt.

Und kennst du deine Beute,
O Tochter Pharaos?
Den Löwen, den du heute
Heimbringst ins Königsschloß?
Zu seines Volkes Retter
Beruft ihn einst sein Gott
Und macht Ägyptens Götter
Durch seinen Stab zu Spott. –

Ja, das sind deine Pfade,
O Vater alles Lichts,
Die Wunder deiner Gnade,
Die alles macht aus nichts,
Die aus des Niles Schlamme
Den armen Findling hebt,
Der einst als Gottes Flamme
Vor seinem Volke schwebt;

Die von der Schäferhürde
Isais zarten Sohn
Zur königlichen Würde
Beruft auf Jakobs Thron;
Die uns in Stall und Krippe
Das Kind des Himmels legt,
Das auf der süßen Lippe
Das Heil der Menschheit trägt.

Karl Gerok
1815-1890

 


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