Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Ostermorgen

Die Lerche stieg am Ostermorgen
  Empor ins klarste Luftgebiet
  Und schmettert' hoch im Blau verborgen
  Ein freudig Auferstehungslied.
  Und wie sie schmetterte, da klangen
  Es tausend Stimmen nach im Feld:
  Wach' auf, das Alte ist vergangen.
  Wach' auf, du froh verjüngte Welt!

Wacht auf und rauscht durchs Tal, ihr Bronnen,
  Und lobt den Herrn mit frohem Schall!
  Wacht auf im Frühlingsglanz der Sonnen,
  Ihr grünen Halm' und Läuber all!
  Ihr Veilchen in den Waldesgründen,
  Ihr Primeln weiß, ihr Blüten rot,
  Ihr sollt es alle mit verkünden:
  Die Lieb' ist stärker als der Tod.

Wacht auf, ihr trägen Menschenherzen,
  Die ihr im Winterschlafe säumt,
  In dumpfen Lüften, dumpfen Schmerzen
  Ein gottentfremdet Dasein träumt.
  Die Kraft des Herrn weht durch die Lande
  Wie Jugendhauch, o laßt sie ein!
  Zerreißt wie Simson eure Bande,
  Und wie die Adler sollt ihr sein.

Wacht auf, ihr Geister, deren Sehnen
  Gebrochen an den Gräbern steht,
  Ihr trüben Augen, die vor Tränen
  Ihr nicht des Frühlings Blüten seht,
  Ihr Grübler, die ihr fern verloren
  Traumwandelnd irrt auf wüster Bahn,
  Wacht auf! Die Welt ist neu geboren,
  Hier ist ein Wunder, nehmt es an!

Ihr sollt euch all des Heiles freuen,
  Das über euch ergossen ward!
  Es ist ein inniges Erneuen
  Im Bild des Frühlings offenbart.
  Was dürr war, grünt im Wehn der Lüfte,
  Jung wird das Alte fern und nah.
  Der Odem Gottes sprengt die Grüfte –
  Wacht auf! Der Ostertag ist da.

Emanuel Geibel (1847)

 


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