Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ein Adlersjüngling hob die Flügel
      Nach Raub aus;
      Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt
      Der rechten Schwinge Sennkraft ab.
      Er stürzt' hinab in einen Myrtenhain,
      Fraß seinen Schmerz drei Tage lang
      Und zuckt' an Qual
      Drei lange, lange Nächte lang:
      Zuletzt heilt ihn
      Allgegenwärt'ger Balsam
      Allheilender Natur.
      Er schleicht aus dem Gebüsch hervor
      Und reckt die Flügel – ach!
      Die Schwingkraft weggeschnitten –
      Hebt sich mühsam kaum
      Am Boden weg
      Unwürd'gem Raubbedürfnis nach
      Und ruht tieftrauernd
      Auf dem niedern Fels am Bach;
      Er blickt zur Eich' hinauf,
      Hinauf zum Himmel,
      Und eine Träne füllt sein hohes Aug'.
 Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste
      Dahergerauscht ein Taubenpaar,
      Läßt sich herab und wandelt nickend
      Über goldnen Sand am Bach
      Und ruckt einander an;
      Ihr rötlich Auge buhlt umher,
      Erblickt den Innigtrauernden.
      Der Tauber schwingt neugiergesellig sich
      Zum nahen Busch und blickt
      Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.
      »Du trauerst«, liebelt er;
      »Sei guten Mutes, Freund!
      Hast du zur ruhigen Glückseligkeit
      Nicht alles hier?
      Kannst du dich nicht des goldnen Zweiges freun.
      Der vor des Tages Glut dich schützt?
      Kannst du der Abendsonne Schein
      Auf weichem Moos am Bache nicht
      Die Brust entgegenheben?
      Du wandelst durch der Blumen frischen Tau,
      Pflückst aus dem Überfluß
      Des Waldgebüsches dir
      Gelegne Speise, letzest
      Den leichten Durst am Silberquell, –
      O Freund, das wahre Glück
      Ist die Genügsamkeit,
      Und die Genügsamkeit
      hat überall genug.«
      »O Weise!« sprach der Adler, und tief ernst
      Versinkt er tiefer in sich selbst,
      »O Weisheit! Du redst wie eine Taube!«
Wolfgang Goethe (1772)