Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Weihnachten auf fremdem Meere

Über das weite, das dunkle Meer,
Wo keine Brücke und wo kein Steg,
Wandelt schweigend die Weihenacht,
Kommt aus dem deutschen Lande her,
Hat zu wandeln gar weiten Weg,
Hat zu tragen gar schwere Fracht.
Tausend Gedanken aus Hütte und Haus,
Alle in Liebe und Sorge gehegt,
Sind ihr zu tragen auferlegt,
Soll sie bestellen fern da drauß'.

Soll dem Sohne am fernen Strand
Sagen: »Die Mutter denket dein.«
Soll dem Vater im fremden Land
Bote von Weib und Kindern sein.

Weihenacht wandelt treulich, geschwind,
Bis an die ferne, die fremde Bucht;
Weiße Schiffe wiegen im Wind,
Deutsche Schiffe, die sie gesucht.
Weihenacht schwingt sich an Schiffes Bord,
Über den Schiffen wird ein Licht,
Schiffsvolk schlummert, vernimmt sie nicht,
Singend erhebt sich ihr süßes Wort:
Blonder Knabe, dir einen Kuß
Bring' ich vom fernen Muttermund,
Bärtiger Mann, einen süßen Gruß
Tu' ich von Kindern und Weib dir kund.
Schiffsvolk, du deutsches, jung und alt,
Über das dunkle, das pfadlose Meer
Schickt eure Heimat mich zu euch her,
Schickt einen Hauch euch der deutsche Wald.

Schiffsvolk träumend vom Schlaf erwacht:
Was ist geschehen, wer trat herein?
Heut in Deutschland ist Weihenacht,
Ferne Heimat, wir denken dein.
Männer draußen im Wogentanz
Denken heim an den Tannenbaum,
Denken heim an den Lichterglanz,
Jubelnder Kinder singenden Kranz,
Männer, umbrüllt vom Wellenschaum,
Träumen den seligen Weihnachtstraum.
Über das weite, das dunkle Meer,
Wo keine Brücke und wo kein Steg,
Wandelt schweigend die Weihenacht,
Kommt aus dem fernen Lande her,
Hat bis Deutschland gar weiten Weg,
Hat zu tragen gar schwere Fracht.

Grüße an all, die in Hütte und Haus
Heut unterm Baume zusammen sind,
Vater und Mutter und Weib und Kind,
Grüße viel tausend, am Herzen gehegt,
Haben die Männer, die fernen, da drauß'
Ihr zu bestellen auferlegt.

Weihenacht wandelt, es spritzen die Wellen,
Sorgt nicht – sorgt nicht, sie wird's bestellen.

Ernst von Wildenbruch

 


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