Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Huttens letzte Tage

Das Hütlein

Es war in Brüssel vor dem Ständehaus.
Die Sage ging: »Der Kaiser reitet aus!«

Noch hatt' ich nie das junge Haupt geschaut,
Dem wir des Reiches höchstes Amt vertraut.

Ein edel Roß ist unsre Zeit. Es stampft.
Es wiehert mutig. Seine Nüster dampft.

Ob er die Zügel klug und kühn ergreift?
Ob er's bewältigt? Ob's ihn wirft und schleift?

Da wir Poeten abergläubisch sind,
Erdacht' ich ein Orakel mir geschwind:

Für diesen Kaiser gelte fort und fort
Das erste seinem Mund entfallne Wort!

Er kam. Ein Hütlein trug er, meiner Treu,
Mit Reiherfedern, funkelnagelneu!

Der Himmel macht' ein mißvergnügt Gesicht,
Und frug sich selber: Regn' ich oder nicht?

Jetzt klatschten Tropfen auf das Pflaster her,
Der Kaiser furchte seine Stirne schwer

Und lugte sorgend zu den Wolken auf.
»Mein altes Hütlein!« rief er, »Kämmrer lauf!«

Ich aber sprach zu mir: Das wird nicht gut!
Sein erster Ruf geht nach dem alten Hut.

Luther

Je schwerer sich ein Erdensohn befreit,
Je mächt'ger rührt er unsre Menschlichkeit.

Der selber ich der Zelle früh entsprang,
Mir graut, wie lang der Luther drinnen rang!

Er trug den Kampf in banger Brust verhüllt,
Der jetzt der Erde halben Kreis erfüllt.

Er brach in Todesnot den Klosterbann –
Das Große tut nur, wer nicht anders kann!

Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch,
Und fest umklammert er sein Bibelbuch.

In seiner Seele kämpft, was wird und war,
Ein keuchend hart verschlungen Ringerpaar.

Sein Geist ist zweier Zeiten Schlachtgebiet –
Mich wundert's nicht, daß er Dämonen sieht!

Conrad Ferdinand Meyer

 


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