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Die Weser

Ich kenne einen deutschen Strom,
Der ist mir lieb und wert vor allen,
Umwölbt von ernster Eichen Dom,
Umgrünt von kühlen Buchenhallen.
Ihn hat nicht, wie den großen Rhein,
Der Alpe dunkler Geist beschworen,
Ihn hat der friedliche Verein
Verwandter Ströme still geboren.

So taucht die Weser kindlich auf,
Von Bergen traulich eingeschlossen,
Und kommt in träumerischem Lauf
Durch grüne Au'n herabgeflossen.
So windet sie mit leisem Fuß
Zum fernen Meere sich hernieder
Und spiegelt mit geschwätz'gem Gruß
Der Ufer sanften Frieden wider.

Doch hat sie in der Zeiten Flug
Gar manche große Mär' erfahren,
Und ihre stille Woge trug
Viel Herrliches in großen Jahren.
Sie sah in ihrer Wälder Schoß
Des Adlers Siegerflügel wanken
Und von der deutschen Arme Stoß
Der ew'gen Roma Säulen schwanken.

Und als mit fester Eisenhand
Held Karl den deutschen Zepter führte,
Da war es, wo im Weserland
Sich manche Stimme mächtig rührte.
Da hörte man des Kreuzes Ruf
Mit hellem Klang an den Gestaden
Und sah der Frankenrosse Huf
Sich in den nord'schen Wellen baden.

So meldet sie dir manchen Traum
Aus ihrer Vorzeit grauen Tagen
Und sieht dabei des Lebens Baum
Stets frisch an ihren Ufern ragen.
Es glänzen in der lichten Flut
Der Klöster und der Burgen Trümmer,
Des Mondes Schein, der Sonne Glut,
Der Türme und der Segel Schimmer.

Und meerwärts durch ihr Felsentor,
Durch immer wechselnde Gefilde
Strömt sie die Wellen leicht hervor,
Wie jugendliche Traumgebilde;
In ihren Tiefen klar und rein
Hörst du es seltsam wehn und rauschen
Und kannst bei stillem Abendschein
Der Nixe Wunderlied belauschen.

Franz Dingelstedt

 


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