Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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4

Es war tiefe Nacht. Daniel konnte nicht schlafen. Das Gänsemännchen kauerte ihm zu Füßen auf dem Bettrand und schaute ihn an, wie man einen teuren Bruder anschaut, der leidet.

»Ich kann's nicht leugnen, daß es schwer für dich ist, dein Leben fortzuführen,« begann das Gänsemännchen und gab sich Mühe, seine helle Stimme zu dämpfen. »Wenn man so bedenkt, Tag reiht sich an Tag, Nacht an Nacht, und mit nichts kann man sich freuen. Alles abgeschnitten, alle Fäden zerrissen, der Grund, auf dem man gebaut hat, zerstört. Du bist wie die Mutter von vielen Kindern, die an einem Tag mit einem Schlag alle Kinder verloren hat. Das jahrelange Ringen unbelohnt, umsonst die Arbeit, umsonst das Herzblut vergossen, umsonst entbehrt, die ganze Vergangenheit wie ein böser wilder Traum. O, ich begreif es, es ist hart, sehr hart, und schwer scheint es, nicht zu verzweifeln.«

Daniel bedeckte das Gesicht mit den Händen und stöhnte.

»Hast du dich schon gefragt, wie die Mörderhand über dein Schicksal gekommen ist? Ei, diese Philippine! Diese Jasonphilippstochter! Bin doch fast vierhundert Jahre alt, aber so eine hab ich noch nie gesehen. Aber blick einmal zurück; öffne deine Augen, jetzt sind sie rein und fähig, zu schauen. Hast du es nicht geduldet, daß der Teufel an deinem Leben teilgenommen hat, und warst du nicht unduldsam gegen die Engel, die ihre Fittiche an dich geschmiegt wie die Gänse ihre an mich? Der Teufel ist fett geworden bei dir, der Vampir hat sich gemästet. Das kommt davon, wenn man nicht geben will, wenn man immer bloß nimmt, nimmt, nimmt; da wird der Teufel fett, der Vampir immer gieriger. Ach, viele gute Genien sind vor dir geflohen, viele hast du verscheucht, du Behexter, du; du Verzauberter, du. Nun, die Hölle hat jetzt ihre Beute, der Himmel kann sich deinem neugeborenen Herzen wieder auftun.«

»Es ist kein Himmel,« ächzte Daniel, »es ist nur Schwärze, nur Finsternis.«

»Dein Atem geht, dein Puls schlägt, und an jeder Hand hast du noch fünf Finger,« versetzte das Gänsemännchen ruhig. »Wer bezahlt hat, ist ein freier Mann. Du hast deine Schuld bezahlt.«

»Meine Schuld bin ich selbst. Leb ich weiter, so schuld ich weiter. Lebt' ich zurück, ich entginge nicht der gleichen Schuld.«

»Es gibt aber eine Verwandlung, und durch die wird einem Absolution. Wende deinen Blick ab vom Phantom und werde erst Mensch, dann kannst du Schöpfer sein. Bist du Mensch, wahrhaft Mensch, dann bedarf es vielleicht gar nicht des Werkes, dann strahlt vielleicht die Kraft und die Herrlichkeit von dir selber aus. Sind denn nicht alle Werke nur Umwege des Menschen, nur unvollkommene Versuche zu seiner Offenbarung? Wenn das Werk alle Liebe verschlingt, wo bleibt der Mensch? Hast du nicht eine Maske aus Gips mehr geliebt als die Antlitze, die rings um dich geweint haben? Hast du nicht einem Larven- und Spiegelwesen Gewalt über dich verliehen und so deine Seele befleckt und deinen Geist mit Lahmheit geschlagen? Wie kann einer Schöpfer sein, der die Menschheit in sich verkürzt und betrügt? Es geht nicht ums Können, Daniel Nothafft, es geht ums Sein.«

Daniel wälzte sich gemartert in den Kissen. »Hör auf, hör auf!« würgte er hervor.

Das Gänsemännchen beugte sich über ihn und kroch wie ein Tier, das nach Wärme verlangt, näher an seinen Leib. »Löse den Krampf!« mahnte es; »zerbrich die Kette! Deine Musik kann den Menschen nichts geben, solang du in dir selbst gefangen bist. Fühl ihre Not! Fühl ihre grenzenlose Einsamkeit! Schau sie an! schau sie an!«

»Es ist so viel,« antwortete Daniel in höchster Qual, »hunderttausend Gesichter verwirren mich, hunderttausend Bilder engen mich ein. Ich kann nicht unterscheiden, muß flüchten, immer flüchten.«

Etwas unsäglich Zartes, unsäglich Beteuerndes und Hinreißendes war im Klang, als das Gänsemännchen sagte: »Wie Christus sprech ich zu dir: steh auf und wandle! Steh auf und wandle, Daniel! Geh mit mir auf meinen Platz. Sei ich, vom Morgen bis zum Abend sei einmal ich, und ich will du sein.«

Da stand Daniel auf, und eh er sich noch recht besonnen, hatte er seine Kleider an und befand sich mit dem Gänsemännchen auf der Straße. Sie gingen zum Obstmarkt, und Daniel, in einem dämmerigen Zustand der Sinne, stieg mit Hilfe des Gänsemännchens auf die Wasserschale hinter dem Gitter und nahm die beiden Gänse unter die Arme. Und blieb stehen, still und steif, genau wie das Gänsemännchen und wartete der Dinge, die da kommen sollten.


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