Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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11

Am schwersten fiel Marianne das Zusammensein mit dem alten Jordan, denn der war nur noch ein Schatten seiner selbst. Zu Daniel in die Stube kam er nicht, sie ging immer zu ihm hinauf, und da saß er, still, hilflos, ausgelöscht, ein Bild der Verlassenheit.

Er sprach nicht von seinem Kummer, er geriet in Unruhe, wenn er in Mariannes Miene Mitleid las. In seinem Benehmen war dann etwas Höfliches, ja Weltmännisches, das im Verein mit seinem armseligen Aussehen und der armseligen Umgebung erschütternd wirkte.

Marianne hoffte von ihm einigen Aufschluß über Daniels Lebenslage zu bekommen. Die sehr bedrängten Verhältnisse des Sohnes waren ihr bekannt, und sie war deshalb schon in großer Sorge; aber sie wollte auch wissen, was er in der Welt galt, und ob das Musikantentum wirklich eine Sache sei, auf die ein Mensch seine Existenz stellen könne. In diesem Punkt war ihr Mißtrauen und ihre Furcht noch von gleicher Stärke wie ehemals; nur im Hinblick auf Lenore hatte sie in den letzten Jahren Vertrauen gefaßt; es war, wie wenn ihr Lenores Art, Lenores Gegenwart eine dunkelferne Ahnung von Musik gegeben hätte. Jetzt kehrten alle Zweifel zurück.

Jordan aber zeigte sich verschlossen, sobald sie von Daniel redete. Seine Augen hatten dann einen gepeinigten Ausdruck. Er schaute nach der Tür, steckte die Hände in die Rockärmel und zog den Kopf zwischen die Schultern.

Einmal sagte er: »Können Sie mir erklären, liebe Frau, weshalb ich lebe? Können Sie mir so einen paradoxen Unsinn erklären, wie es mein jetziges Dasein ist? Der Sohn, ein Lump, spurlos verschollen für die Welt, und für mich nicht mehr vorhanden. Die Töchter im Grab; beide; beide im Grab, liebe Frau. Ich bin ein Mann gewesen, ich bin ein Gatte gewesen, ich bin ein Vater gewesen. Ein Vater gewesen! Was für ein Hohn der Natur! Essen, trinken, schlafen – was für widerliche Beschäftigungen! Und doch, wenn ich nicht esse, hungert mich, wenn ich nicht trinke, dürstet mich und wenn ich nicht schlafe, bin ich krank. Wie einfältig, wie zwecklos! Für mich singen keine Vögel mehr, läuten keine Glocken mehr und haben die Musiker keine Musik mehr.«

Da aber Marianne irgendeine Beruhigung um jeden Preis gewinnen wollte, so wandte sie sich an Eberhard und Sylvia, die fast täglich zu Daniel kamen. Die zwei Menschen gefielen ihr; es war so viel Rücksicht in ihrem Betragen, so viel Feinheit in allem, was sie sagten. Das Fräulein nahm nicht den geringsten Anstoß an Daniels finsterer Schweigsamkeit; sie behandelte ihn mit einer Achtung, die Marianne wohltat, weil sie ihr bewies, daß er bei den Guten und Edlen geschätzt war. Der Freiherr schien auf geheimnisvolle Weise immer von Lenore zu sprechen, ohne je ihren Namen zu nennen. Es war eine Trauer in seinen Augen, die mit übersinnlicher Gewalt an die Verstorbene mahnte. Oft war es Marianne zumute, als seien Daniel und dieser Fremde Brüder und zugleich Feinde im Schmerz der Erinnerung. Auch Sylvia schien es zu spüren und sich nicht dagegen zu wehren.

Als Marianne die beiden einmal auf den Flur begleitet, faßte sie sich ein Herz. »Wie wird's ihm denn nun ergehen?« fragte sie, »er hat kein Amt, spricht nie von Arbeit, was soll da werden?«

»Wir haben daran gedacht,« antwortete Sylvia, »und ich glaube, es ist ein Weg gefunden. Er wird bald Näheres hören, nur, denke ich, darf er nicht wissen, daß wir die Hand im Spiel haben.« Sie schaute ihren Verlobten an, und dieser nickte. Marianne atmete auf.

Darüber waren sich Eberhard und Sylvia von Anfang an klar, daß man Daniel in keiner Form Geld anbieten konnte. Kleine oder große Gaben, sie demütigten ihn, entwürdigten sie. Von der höchsten zur tiefsten Stufe des Besitzes hinab stößt die Hilfsbereitschaft auf unüberwindliche Hindernisse; es ist keine Zartheit möglich, keine Klausel, kein liebevoller Betrug, da steht der Reichtum vor der Armut so ratlos wie diese vor ihm.

Entschlossen, der Not des Musikers zu steuern, hatte sich Sylvia an ihre Mutter gewendet. Auf den Beistand der Freifrau war nicht zu zählen, sie war von Andreas Döderlein so nachhaltig gegen Daniel beeinflußt worden, daß sie drohend die Stirn runzelte, wenn man von ihm redete.

Agathe von Erfft setzte sich mit einigen Personen in Korrespondenz, die ihr dienliche Winke geben konnten. Durch diese wurde sie insofern gefördert, als sie ohne zeitraubende Irrwege an die rechte Stelle gelangte. Eines Tages erschien sie vor Eberhard und Sylvia mit dem fertigen Projekt.

Ein angesehenes Mainzer Verlagshaus hegte schon seit Jahren die Absicht, eine Sammlung mittelalterlicher Kirchenmusik zu veranstalten und herauszugeben. Viel Material lag schon vor, ein inzwischen verstorbener Musikschriftsteller hatte es zusammengetragen; anderes mußte erst beschafft werden; hiezu waren Reisen nötig, bedeutende Geldopfer, ein Mann vor allem, der die Mühe nicht scheute und dessen Sachkenntnis keinen Zweifel zuließ. Da nun schon im Beginn des Unternehmens die Kosten den zu hoffenden Ertrag bei weitem überstiegen hatten, war der Verleger bedenklich geworden und hatte, weil auch eine geeignete Kraft fehlte, auf die Ausführung des Planes verzichtet.

Agathe hatte schon früher davon gehört. Daß die Angelegenheit wieder in Fluß gebracht werden konnte, erfuhr sie durch eine mittelbare Erkundigung, eine unmittelbare bestätigte es. Der Verleger wollte jedoch die geschäftliche Gefahr nicht mehr allein tragen, er suchte einen Mäzen, der sich mit einem Kapital beteiligte. Kam dies zustande, so war er bereit, Daniel Nothafft, dessen Name ihm von ungefähr bekannt war, die verantwortungsvolle Aufgabe anzuvertrauen. Da die verschiedenen Arbeiten, als: das Sammeln in Archiven, Bibliotheken und Klöstern; die Korrekturen; Erläuterungen; Überwachung des Drucks usw. sich über eine Reihe von Jahren erstrecken würden, müßte man ihn der Firma verpflichten und sei erbötig, ihm bis zur Beendigung des Werkes einen Jahresgehalt von dreitausend Mark zu zahlen.

Eberhard zog verläßliche Nachrichten über den Ruf und Kredit jenes Hauses ein, und da diese günstig lauteten, erklärte er, die bedungene Kapitalshilfe leisten zu wollen.

Ein paar Tage nach dem Gespräch zwischen Sylvia und Marianne erhielt Daniel mit der Frühpost einen Brief des Verlags Philander und Söhne, worin er aufgefordert wurde, dem nach Art und Ziel genau bezeichneten Unternehmen seine Dienste zu widmen. Im Falle seiner Einwilligung hatte er nur seine Unterschrift auf den mitgeschickten Kontrakt zu setzen.

Er las alles ruhig von Anfang bis zu Ende durch. Seine Miene erhellte sich nicht. Er schritt einige Male auf und ab, trat dann ans Fenster und schaute hinaus. »In diesem Sommer scheint's bloß Regen zu geben,« sagte er.

Marianne war zum Tisch gegangen. Sie nahm den Brief samt dem Vertrag und las beides. Ihre Pulse klopften vor Freude, doch drängte sie jede Äußerung aus Furcht vor Daniels Widerspruchsgeist und unberechenbarer Laune zurück. Kaum traute sie sich nach ihm hinzublicken und wartete bang auf das, was er tun würde.

Endlich trat er wieder an den Tisch, zog eine Grimasse, starrte eine Weile auf die Schriftstücke und sagte lakonisch: »Kirchenmusik? Ja; das will ich machen.« Langte nach dem Federhalter, tauchte ihn ein und kritzelte seinen Namen unter den Vertrag.

»Gott sei Dank!« flüsterte Marianne.

Am selben Mittag verabschiedete sie sich von Daniel. Eva hing am Hals ihres Vaters und wollte sich gar nicht trennen. Ohne Scheu küßte sie ihn unzählige Male voll natürlicher, sprudelnder Leidenschaft und lachte dabei. Daniel ließ es geschehen. Er blieb ernst. Wenn sein Blick dem Blick des Kindes begegnete, schauderte ihm vor der grenzenlosen Fülle des Lebens, aber er empfand auch eine Verheißung, und dagegen sträubte er sich mit aller Macht.


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