Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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11

Durch trennende Räume wurden Daniel und Lenore unwiderstehlich zueinander gezogen. In ihren Gedanken begleiteten sie einander, und jedes erriet des andern Wunsch und Meinung. Kam er verstimmt und gereizt nach Hause, war sie geängstigt und ruhelos, so brauchten sie sich nur Seite an Seite zu setzen, und es war Friede in ihnen.

War Daniels Überredungsgewalt groß, so war es bei Lenore die Macht des Beispiels. Eine Speise war verdorben, und Daniel mochte sie nicht essen; Lenore aß sie nicht bloß, sondern gewann es auch über sich, sie zu loben, da aß er gleichfalls, und sie schmeckte ihm. Gertrud hatte die Speise zubereitet, und Lenore glaubte die Schwester schonen zu sollen; aber Gertrud wollte nicht geschont sein, sie legte Messer und Gabel hin und sagte: »Daniel hat recht, man kann's nicht essen.« Sie stand auf und ging in die Küche, um einen Milchbrei zu kochen und so für das verdorbene Gericht Ersatz zu schaffen. So war sie nun, immer ergeben, stumm beflissen; stumm bemüht, keine Pflicht zu verabsäumen. Daniel und Lenore schauten einander verlegen an, bald jedoch verwandelte sich die Verlegenheit in wechselseitiges Entzücken, und sie konnten die Blicke nicht mehr eins vom andern losreißen.

In Daniels sinnlicher Anlage war nichts von Verführertum. Dafür war er von seinen Wünschen und Begierden in hohem Grad abhängig, und in seinem leidenschaftlichen Eigensinn wurde er nicht selten rücksichtslos. Doch hatte dann Lenore eine tiefkundige Ruhe, heitere Bestimmtheit an ihrem Ort und Nachgiebigkeit an ihrem Ort. So viel Ansprüche an Geduld und Maß hätten einen politisch gestählten Geist und das erfahrenste Herz müde machen können, sie aber fand sich durch den unbeirrbaren Instinkt ihrer Natur zurecht und war niemals müde.

Wogegen er sich am häufigsten aufbäumte, war das, was er die bürgerliche Vorsicht an ihr nannte, die Wahrung des notwendigen Scheins. Er wollte die Stunden seiner Liebe nicht wie ein erstohlenes Gut in Besitz nehmen, nicht über Flur und Stiege schleichen, nicht flüstern, nicht die heimlichste Stunde abwarten, nicht mit Bangen und Zagen kommen und gehen.

Es ist nicht erforderlich, diesen Heimlichkeiten nachzulauschen; wir wollen nicht dem bösen Geist Asmodei ins Handwerk pfuschen, der die Dächer durchsichtig macht und in die Schlafkammern blickt, wir wollen nicht Daniels Spion sein, wenn er in mitternächtiger Stunde die Mansarde verläßt und auf Filzschuhen sich am Geländer heruntertastet, wir wollen nichts von Lenores Qual und Verlangen, von ihrem Harren, von ihrem Flüchten, von ihrer Abwehr, von ihrem Unterliegen erzählen; über diese Dinge wollen wir hinwegsehen, ein erbarmender Vorhang falle über sie, denn sie sind gar zu menschenhaft und wunderlos.

Nur an eine einzige Nacht sei gerührt, wo Daniel in Lenores Kammer trat und zu ihr sagte: »Ich habe dich noch nie gesehen wie ein Liebender seine Geliebte.« Lenore saß auf dem Rand ihres Bettes und begann zu zittern. Darnach blies sie die Kerze aus, Daniel hörte das Rascheln ihrer Gewänder, und nun ging sie zum Ofen, machte das Feuertürchen auf, und weil im Ofen helle Kohlenglut war, stand sie von Purpurdunst beleuchtet da, und der magere, zarte, nackte Leib, eigentümlich figurenhaft, war von der harmonischesten Beseelung erfüllt. Und da nun das Spiel der Glieder, als sie das Licht wußten, plötzlich von Scham gehemmt wurde, bog Lenore den Kopf zur Wand, wo immer noch die Maske der Zingarella hing, die Daniel ihr gelassen hatte. Sie nahm die Maske vom Nagel, hielt sie mit beiden Händen, so daß die Glut auch auf den weißen Gips fiel, dabei senkten sich ihre Augen, und sie lächelte in einer Weise, die Daniel durch und durch erschütterte. Etwas Ewiges langte an sein Herz, Ahnung des Endes, Schicksalsfurcht.

Zur gleichen Zeit hatte sich Gertrud in ihrem Bett aufgerichtet und starrte mit Augen, als erblicke sie dorten wen, gegen ihre Stubentür. Nachdem sie lange hingestarrt hatte, erhob sie sich, öffnete die Tür, ging unhörbar in den Flur, kehrte wieder um, ging noch einmal hinaus und begab sich dann, die Tür offen lassend, wieder ins Bett, wo sie aufrecht sitzen blieb und nun auf die Tür draußen überm Flur starrte, hinter welcher sie Daniel und Lenore wußte. Von ihrem Haupt hing links und rechts ein Zopf herab, und inmitten des dunkeln Haars oben und der dunkeln Zöpfe an den Seiten glich ihr Gesicht einer Wachsform in einem düstern alten Rahmen.

Kein Zucken der Muskeln gab Kunde von den Bildern, die sich in ihrem Geiste drängten.

Hinter jener Tür lag für sie die ganze Welt. Ihr schien, sie könne es nicht mehr aushalten, das Wissen darum. Überall schlichen sie über die Gänge der Wohnungen, überall lockte ein Weib, zu jedem Weib gesellte sich ein Mann, und sie umschlangen einander und gruben einander die Zähne ins Fleisch. Es war so lästerlich als unsinnig, ein Elend und ein Grauen. Überall sah sie das verwerflich Entblößte, alle Kleider waren wie aus Glas, sie konnte weder Weib noch Mann anschauen, ohne zu erbleichen. Sie hatte nur eine einzige Zuflucht, an der Wiege des Kindes hinzustürzen und zu beten. Stand sie aber wieder auf, so atmete sie wieder in der vergifteten Luft, und das Verlangen, sich zu reinigen von dem Verbrechen, an dem sie sich schuldig fühlte, ohne daß sie bis jetzt hatte ergründen können, was für ein Verbrechen es eigentlich war, raubte ihr den Schlaf. Ihr war nur zumut, als hänge über ihrem Kopf ein schwerer Stein, der sich langsam löste und jeden Tag schrecklicher mit seinem Sturz drohte.

Stunde um Stunde war verronnen, da trat endlich Daniel in den Vorplatz. Er erschrak nicht wenig, als er den Lampenschein und die aufrecht im Bett sitzende Gertrud gewahrte.

Er ging in die Kammer, schloß die Tür, ging an die Wiege, schaute auf das schlummernde Kind nieder und trat dann zu Gertrud. Sie heftete einen unendlich aufmerksamen Blick in sein Gesicht, einen Blick, der um ein Urteil zu fragen, um einen Richterspruch zu flehen schien. Zugleich aber streckte sie abwehrend die Arme gegen ihn, und als er betroffen stehen blieb, milderte sich der Ausdruck ihrer Augen, und sie sagte. »Gib mir die Hand.«

Sie nahm seine Rechte, streichelte sie und flüsterte: »Die arme Hand, die arme Hand.«

Daniel biß die Zähne zusammen. »O, Frau,« sagte er.

Er setzte sich an den Rand des Bettes und schwieg. Gertrud sah ihn wieder mit demselben gespannten und flehenden Ausdruck an wie vorhin. Aber er ließ sich neben sie hinsinken, und den Kopf an ihre Brust gelehnt, schlief er ein.

Sie hielt noch immer seine Hand. Sie schaute in sein fahles, schmales Gesicht und auf die geeckte Stirn, deren Haut unter den wirr hängenden Haaren bisweilen leise zuckte. Das Öl in der Lampe ging zur Neige, und der Docht fing an zu riechen, aber sie getraute sich nicht, die Lampe auszublasen, aus Furcht, Daniel könnte erwachen. Sie sah still zu, wie das Licht verlosch und an seiner Statt ein rotes Glimmern war, bis auch dieses erlosch und es finster wurde.


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