Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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16

Es war Mitte Dezember, ein klarer Frosttag. Lenore wäre nach Tisch gerne aufs Eis gegangen. Sie war eine treffliche Schlittschuhläuferin und in der ganzen Stadt dafür berühmt. Eine unbezähmbare Lebens- und Freiheitslust durchpulste ihren Körper; es dünkte sie jämmerlich, daß sie sich in der stickigen Ofenluft sollte zu den Schreibern setzen und schreiben.

Indessen ging sie hin und schrieb wie täglich bei den Schreibern, und die Augen des Herrn Zittel hinter den Brillengläsern erschienen ihr wie zwei grüne Giftfläschchen. Es gelang ihr die Arbeit nicht, trag schlich die Zeit hin, träger noch als Herr Diruf durch die Säle. Lenore hob den Kopf, ihr war, als ruhe sein finsterer Blick auf ihr, und im Bewußtsein ihrer Pflichtversäumnis errötete sie.

Endlich schlug es sechs, lärmend standen die Schreiber auf, doch Lenore wartete wie immer, bis es leer war, denn sie liebte es nicht, sich unter sie zu mischen. Da humpelte Benjamin Dorn herein. »Fräulein Jordan soll zum Chef kommen,« rief er und bog den langen Hals wie ein Schwan. Lenore wunderte sich; es gab nichts, was zwischen ihr und Herrn Diruf zu besprechen war. Vielleicht ist es Bennos wegen, dachte sie.

Alfons Diruf saß an seinem Schreibtisch, als sie eintrat. Er schrieb noch eine Zeile, dann richtete er den Blick starr auf sie. Es war etwas in diesem Blick, was ihr das Blut aus den Wangen trieb. Unwillkürlich schaute sie an sich herab und spürte ihre Haut.

»Sie haben mich rufen lassen,« sagte sie.

»Ja, ich habe Sie rufen lassen,« sagte Herr Diruf und machte einen müden Versuch, zu lächeln.

Es entstand wieder eine Pause. Beunruhigt blickte Lenore von einem Gegenstand zum andern, bald auf die badende Nymphe an der Wand, bald auf die Vorhänge aus Damast, bald auf den chinesischen Lampenschirm.

»Nun, Schätzchen,« sagte Herr Diruf, und aus dem Lächeln wurde eine Art von Krampf; »wir sind nicht übel; beim Bart des Propheten; wir haben alles an der rechten Stelle. He?«

Lenore warf den Kopf auf. Sie glaubte nicht gut gehört zu haben. »Sie haben mich rufen lassen,« wiederholte sie mit lauter Stimme.

Diruf legte die flache Hand auf den Bord des Schreibtischs. Der Solitär schleuderte Funken. »Ich kann euch alle zertrümmern,« sagte er und schob die Hand ein wenig nach vorwärts, gegen Lenore hin. »Das Bürschchen da draußen, Ihr Bruder, ist ein heimlicher Filou. Ich kann ihn über sich selber purzeln lassen, wenn ich will.« Er schob die fette Hand abermals ein Stück vorwärts, als wäre sie eine gefährliche Maschine und der Solitär eine zur Warnung daran befestigte Laterne. »Ich kann euch alle tanzen lassen, sobald es mir beliebt. He, Schätzchen? Capito? Comprenez-vous?«

Mit einem namenlosen Erstaunen blickte Lenore in Alfons Dirufs Pflaumenaugen.

Da erhob sich Diruf, trat an ihre Seite und legte den Arm um ihre Schultern. »Ist jener ein genäschiger Kater, den man vom Weg locken kann, so sei du eine schnurrende Miezekatz,« sagte er mit einer gräßlichen Zärtlichkeit in der Stimme und hielt zugleich Lenore so fest, daß sie sich minutenlang nicht rühren konnte. »Ruhig, Schätzchen! Ruhig, mein kleiner Busen! Ruhig, du Satan!«

Aber da rieselte ihr der heiße und kalte Schauder bis ins Mark; die Berührung wirkte auf sie wie etwas Ungeheures, in schwersten Träumen nie so schrecklich Geahntes; ein Ruck, als gelte es alles, Leib und Leben, und sie war frei. Mit einem Gesicht, das weiß flammte, stand sie da und lächelte dennoch; ein seltsames Lächeln war es, ganz außerhalb der Grenzen dessen, was sonst so genannt wird, und Alfons Diruf war plötzlich nicht mehr fett und finster, sondern er war wie ausgeblasen, zunichte geworden und stierte dumm vor sich hin, als er sich allein fand.

Lenore eilte durch die Gassen, und auf einmal fand sie, daß sie in der langen Zeile ging. Dorthin hatte sie aber nicht gehen wollen, und sie kehrte wieder um. Da gewahrte Benda, der eben zu Daniel wollte, die hastig Schreitende, erkannte sie im Schein einer Gaslampe, blieb stehen, als sie an ihm vorüberging und schaute ihr betroffen nach.

Zu Hause angelangt, sank sie in der Wohnstube erschöpft aufs Sofa. Um sich vor der Erinnerung an die vergangene Stunde zu retten, flüchtete sie in ihre Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem südlichen Land. Sie sehnte sich mit solchem Schmerz und solcher Lust, daß ihr Antlitz wie im Fieber glänzte. Aber die gläserne Kugel hatte einen Sprung bekommen.

Als es kurz vor acht Uhr läutete, sagte sie zu Gertrud: »Wenn es Daniel ist, schick ihn fort, ich kann heut niemand sehen.«

»Bist du krank?« fragte Gertrud eigentümlich streng.

»Ich weiß es nicht, ich will niemand sehen,« sagte Lenore und lächelte wieder wie im Zimmer Dirufs.

Es war wirklich Daniel. Benda hatte ihm gesagt, daß er Lenore gesehen habe, unten vor dem Haus, und als er erfuhr, daß sie nicht bei Daniel gewesen, nahm seine Besorgnis zu. »Da ist etwas nicht in Ordnung,« meinte er, »du mußt zu ihr gehen.« Und nachdem sie noch eine Weile geplaudert hatten, begleitete er Daniel bis zum Egydienplatz, um sicher zu sein, daß er sich nach Lenore erkundigen würde.

Gertrud öffnete die Gittertür. »Lenore will nicht, daß Sie hineinkommen,« sagte sie mit einem Schimmer von Freude in den Augen.

»Warum nicht? Was ist geschehen?«

»Sie will es nicht,« sagte die Einsilbige und blickte in das Licht des Flurlämpchens.

»Ist sie krank?«

»Nein!«

»Dann soll sie mir selber sagen, daß sie's nicht will.«

»Gehn Sie!« befahl Gertrud und warf den Kopf zurück.

Ihr düsteres Auge verfing sich in seinem Blick, und sie standen einander gegenüber wie zwei Wettläufer, die von verschiedenen Seiten an dasselbe Ziel kommen. Dann drehte sich Daniel schweigend um und ging die Stiege hinunter. Gertrud blieb noch eine Weile stehen, und ihr Kopf sank immer tiefer auf die Brust. Plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht, und durch ihren Körper lief ein Erbeben.


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