Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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9

An einem stürmischen Spätnachmittag im Juni kehrte Daniel von der letzten Probe zur »Harzreise« müde und verstimmt heim. Die Proben waren in einem kleinen Saal im Weyrauthersgarten abgehalten worden. Nach und nach hatte er sich mit sämtlichen Musikern und sämtlichen Sängern und Sängerinnen überworfen.

Als er auf den Egydienplatz kam, rieselte auf einmal ein Schauder über seinen Körper. Er mußte die Hand über die Augen legen und im Gehen innehalten. Er glaubte sterben zu müssen vor Sehnsucht nach etwas Jungfräulichem, das er verscherzt hatte.

Er ging die Stiegen hinauf, ging an seiner Wohnung vorüber und erklomm die finstere Treppe zur Inspektorswohnung.

Sein Blick fiel in den Bretterverschlag, in dem sich der Herd befand und das Kupfergeschirr an der Wand glänzte. Dort saß Lenore, den Arm auf das Fensterbrett, den Kopf in die Hand gestützt, in tiefem Sinnen eigentümlich kraftvoll ruhend. Ihr Gesicht war abgekehrt gegen die steile Senkung eines Daches, uraltes Fachwerk, graue Mauern, erblindete Fensterscheiben und verfallene Holzgalerien, über denen die Stille und ein wolkenbedecktes Himmelsquadrat lag.

»Guten Abend,« sagte Daniel, aus dem Dunkel in das Halbdunkel tretend; »was tust du da, Lenore, was denkst du?«

Lenore fuhr zusammen. »Ach, du bist es, Daniel? Du läßt dich auch einmal sehen? Und fragst, was ich denke; gleich so neugierig! Willst in mein Zimmer kommen?«

»Nein, bleib nur,« antwortete er und hinderte sie durch eine Berührung der Schulter am Aufstehen. »Ist der Vater zu Hause?«

Sie nickte. Er zog ein schmales Bänkchen, von dem er die Kaffeemühle und einen Trichter wegnahm, an das Anricht und setzte sich in die größtmögliche Entfernung von Lenore, wobei sie einander immer noch so nahe waren, als hätten sie sich in einer Kutsche gegenüber gesessen.

»Wie geht's dir?« fragte sie befangen, mit einem Blick ohne Wärme.

»Du weißt doch, daß ich auf eine durchlöcherte Trommel schlage, Lenore.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber was die Menschen auch tun und unterlassen mögen, zwischen uns zweien muß es ins Klare kommen. Gehst du nach Paris?«

Sie schwieg und senkte den Kopf. »Ich könnte gehen, es steht nichts mehr im Weg,« sagte sie dann leise zögernd. »Doch du siehst ja ungefähr, wie ich bin. Ich bin nicht mehr so . . . so wie früher. Früher hätte ich gedacht, wunder was für ein Glück das ist, jemand, dem ich mich dort anvertrauen kann und der sich für mich interessiert. Hätt mich nicht lang besonnen. Und wenn ich gehe, was wird damit klar? Und was wird klar, wenn ich bleibe? Ich hab dir schon neulich gesagt: ich versteh dich nicht, Daniel. Wie entsetzlich ist jedes Wort davon! Was willst du nur? Was soll denn daraus werden?«

»Erinnerst du dich an Bendas letzten Brief, Lenore? Du selbst hast ihn mir gebracht, und ich war nachher wie ausgewechselt. Er schrieb mir damals, wie wenn er von Gertrud nichts wüßte, ich solle nicht an dir vorübergehen. Wir beide seien füreinander bestimmt wie nichts auf der Welt, schrieb er. Du mußt dich doch erinnern, wie ich darnach war. Und schon vorher, erinnerst du dich, wie du am Hochzeitstag den Myrthenkranz aufgesetzt hast? Da hab ich gewußt: alles verloren, alles hin. Aber nein, vorher noch, wie das Fräulein Silvia von Erfft deine Haut gehabt hat, deine Gestalt, deine Haare und deine Hände! Und vorher, vorher. Wenn du im Wald mit Benda gegangen bist und ich hinterdrein, und es war mir so was Liebes, deinem Gehen zuzuschauen, nur wußt ich's nicht. Und wenn du ins Zimmer gekommen bist dort in der langen Zeile und die Gipsmaske gestreichelt hast und am Klavier gesessen bist und die Wange ans Holz gelehnt hast, wie mir das unentbehrlich war, tief drinnen unentbehrlich, nur wußt ich's nicht, wußt es nicht.«

»Es mag nun gewesen sein, wie es will, es ist eben gewesen,« erwiderte Lenore mit angehaltenem Atem, und eine Röte, die sie quälte, überflutete ihr Gesicht, um erschreckend schnell wieder der Blässe zu weichen.

»Glaubst du, ich bin einer, der sich mit Gewesenem abfindet? Jeder Mensch, Lenore, ist sich sein Glück schuldig und kann es erringen, wenn er dazu entschlossen ist. Erst, wenn er's versäumt hat, macht ihn das Schicksal zum Hund.«

»Das ists eben, was ich nicht begreife,« sagte Lenore und blickte ihm mit heiterer Freiheit ins Gesicht. »Es drückt mir ja das Herz ab, dich so im Selbstbetrug und häßlichen Trotz zu wissen. Wir beide können doch nicht eine Schlechtigkeit begehen, Daniel, das ist doch ganz unmöglich, nicht wahr?«

Erregt beugte sich Daniel näher zu ihr hin. »Weißt du denn, wo ich stehe?« fragte er, und die blauen Adern an seinen Schläfen schwollen an; »ich will dir's sagen. Ich stehe auf einem morschen Brett über einem Abgrund. Rechts und links von demselbigen Abgrund sind lauter blutgierige Wölfe. Ich habe nur die Wahl, entweder in den Abgrund hineinzuspringen oder mich von den Wölfen zerreißen zu lassen. Wenn nun so ein Wesen durch die Lüfte herunterschwebt, so ein Flügelwesen wie du, und kann einen nach oben retten, gibts da ein Bedenken?«

Lenore verschränkte die Arme über der Brust und schloß die Augen halb. »Ach nein, Daniel,« sagte sie wie begütigend, »da übertreibst du wirklich. Da siehst du zu weiß und zu schwarz. Ein Flügelwesen, ich? Wo wären Flügel an mir? Und Wölfe? All die unbedeutenden närrischen Leutchen – Wölfe? Ach nein. Und blutgierig! Geh doch zu!«

»Zertritt mir nicht mein Gefühl, Lenore!« rief Daniel mit unterdrücktem Ton und leidenschaftlicher Wildheit; »zertritt mir nicht mein Gefühl, denn sonst besitz ich nichts. So kannst du nicht denken, so nicht empfinden, so lau, so flau, so gemein. Oberstimme. Oberstimme! besinn dich doch! Siehst du nicht, wie sie mir die Zähne weisen? Hörst du nicht ihr Geheul bei Tag und Nacht? Kannst du sie gut nennen oder mitleidig? Oder sind sie willig, wenn einer kommt, um gut und groß zu sein? Glaubst du an einen, an einen einzigen unter ihnen? Haben sie nicht sogar deinen süßen Namen begeifert? Ist ihnen etwas heilig von dem, was dir oder mir heilig ist? Werden sie durch deine oder meine oder irgendeines Menschen Not um Millimetersbreite von der Stelle gerückt? Klebt nicht an jedem ihrer Mäuler der Schlamm der Verleumdung? Ist ihnen nicht dein Lachen ein Dorn im Auge? Neiden sie mir nicht den bittern Bissen, um den ich mich schinde, und die Musik, die ihnen unbegreiflich ist und die sie hassen, weil sie ihnen unbegreiflich ist? Müßt ich nicht Steine klopfen oder Latrinen säubern, wenn es nach ihrer Herzenslust ginge, weil sie mir mein Leben nicht verzeihen und das, was mein Leben ausmacht –? Und das keine Wölfe? Das keine Wölfe? Sag mir, daß du vor ihnen Angst hast, sag mir, daß du sie nicht auf dich hetzen willst, aber sag mir nicht, daß du eine Schlechtigkeit begehst, wenn ich dich zu mir rufe, dich mit deinen Flügeln, und du kommst.«

Seine Arme lagen, ausgestreckt nach ihr, auf der Platte des Küchentischs und bebten bis in die Fingerspitzen.

»Die Schlechtigkeit, Daniel,« flüsterte Lenore, »die hat doch nichts mit denen zu tun, die begingen wir doch gegen die höhere Sitte, gegen unser inneres Gefühl von Brauch und Ehre . . .«

»Falsch,« zischte er, »falsch. Das haben sie dir weisgemacht. Das haben sie Jahrhunderte und Jahrhunderte lang in dich und deine Mutter und deine Muttersmutter und deine Urmütter hineingepredigt. Falsch. Lüge. Alles Lüge. Mit dieser Lüge stützen sie ihre Macht, schützen sie ihre Organisation. Wahrheit dagegen ist, was das Herz erfüllt, was Freude schafft, was mich weiterbringt. Wahrheit ist, was die Natur gebietet, und der Gehorsam gegen die Natur. Wahrheit ist in deinen Sinnen, Mädchen, in deinen geknebelten Sinnen, in deinem Blut und in dem Ja, das dir deine Träume sagen. Freilich weiß ich nur zu gut, daß sie ihre Lüge brauchen, denn sie müssen organisiert sein, die Wölfe, sie müssen ein Rudel sein, denn sonst sind sie nichts. Ich aber hab nur meine Wahrheit; auf meinem Brett über dem Abgrund nur meine Wahrheit.«

»Deine Wahrheit,« sagte Lenore; »deine. Das ist aber nicht meine.«

»Nicht, Lenore? Nicht deine? Wozu sprach ich dann mit dir? Und wenn alles andere Irrtum und Schwindel ist, davon bin ich überzeugt wie vom Licht meiner Augen, daß es deine ist.«

»Du kannst dich doch nicht gegen die ganze Welt stellen,« brach es aus Lenores beengter Brust, »du bist doch auch drinnen in der Welt.«

»Ja, gegen die Welt will ich mich stellen,« antwortete er, »eben dazu bin ich entschlossen. Ihre Münze zahl ich ihr zurück. So wie sie gegen mich steht, so steh ich gegen sie. Ich bin kein Verträgemacher, bin kein Händler, bin kein Bettler. Ich lebe nach meinem Gesetz. Ich muß, wo alle bloß sollen oder dürfen oder nicht dürfen. Wer das nicht faßt, mit dem hab ich nichts gemein.«

Ihr graute vor der Vermessenheit seiner Worte, doch regte sich in ihr etwas wie Jubel und Stolz, und die Lust regte sich, für ihn zu sein, mit ihm zu sein. Bäumte er sich auf wider die Gewalt, die ihn vernichten mußte, so tat er es doch um ihretwillen, und so glaubte sie nicht das Recht zu haben, sich ihm zu entziehen. Was sie wunderlich beruhigte, zugleich schlaff machte und hinriß, war die Glut und die Unbeirrbarkeit seines Willens und seines Gefühls.

Aber da begegneten sich ihre Blicke, und im Auge eines jeden war der Name Gertrud zu lesen.

Gertrud stand ja lebendig zwischen ihnen; alles, was sie gesprochen hatten, war von Gertrud ausgegangen, ging zu Gertrud zurück. Daß Daniel an die Lösung seiner Ehe nicht dachte, nicht denken konnte, das wußte Lenore. Ein Kind sollte kommen; wie war es möglich, die Mutter zu verstoßen? Wie war es möglich, bei der Dürftigkeit der Umstände, Mutter und Kind dem Elend preiszugeben? Hierzu war Daniel nicht fähig, das wußte Lenore.

Doch wußte sie auch, sie kannte ihre Schwester gut genug, um dies zu wissen, daß eine Trennung von Daniel so viel hieß, wie Gertrud töten. Sie wußte ferner, daß Daniel sich in seiner Ehe für unverbrüchlich gebunden hielt, nicht nur wegen seiner Kenntnis von Gertruds Charakter, sondern auch, weil in seiner Ehe mit Gertrud etwas enthalten war, unabhängig von Leidenschaften, Einsichten und Entschlüssen, etwas, das sogar im Haß noch fesselt und in der Verzweiflung kittet.

Dies alles wußte sie. Und sie wußte, daß Daniel es wußte. Und wenn sie nun die einzig mögliche Folgerung aus seinen Worten und aus seiner Seelenverfassung zog, so wußte sie auch, was er von ihr verlangte.

Er verlangte von ihr, daß sie sich opfern solle. Darüber gab es keinen Zweifel mehr.

Wie aber opfern? In Heimlichkeit? Konnte daraus ein Glück erwachsen? Mit Gertruds Einverständnis? Konnte Gertrud dies ertragen, selbst wenn sie großmütig war wie eine Heilige? Wo gab es da einen Weg? Wo drohte nicht Verwirrung, Angst und Untergang?

Sie beugte das Gesicht nieder und bedeckte es mit den Händen. Lange saß sie so. Über die Dächer draußen senkte sich die Dämmerung.

Plötzlich richtete sie sich auf, streckte ihm die Hand hinüber, lächelte mit Tränen in den Augen und sagte mit einem letzten Versuch, dem Ungeheuren zu entgehen, mit einer wunschdurchflammten Eindringlichkeit und einer ergreifenden Schelmerei in der Stimme: »Brüderlein . . .«

Er schüttelte traurig den Kopf, nahm aber ihre Hand und hielt sie zart zwischen seinen beiden.

Da verdunkelte sich ihr Gesicht wie eine Landschaft beim Anbruch der Nacht. Ihr abgewandter Blick sah die Bäume eines großen Gartens, sah ein häßliches, krankes Weib unter einer Hecke und sah zwei kleine Mädchen, die sich fürchteten und zukunftsbang in die untergehende Sonne schauten.

Ein Geräusch ließ sie und Daniel zusammenfahren. Auf der Schwelle stand Philippine Schimmelweis. Ihre Augen glitzerten wie die Haut eines Reptils, das aus dem Sumpf emportaucht.

Daniel ging in seine Wohnung hinunter.


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