Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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6

Sommer, Herbst und Winter des Jahres 1893 verbrachte er mit unstetem Wandern. Bald saß er an einem entlegenen Ort in Thüringen, bald in einem Tal der Rhön, bald im Erzgebirge, bald in einem Fischerdorf an der Ostsee. Tagsüber arbeitete er an dem Sammelwerk, in der Nacht komponierte er. Und nur der Firma Philander war sein jeweiliger Aufenthalt bekannt. Vor den Brotherren durfte er sich nicht verstecken.

Allmählich entwöhnte er sich des Wortes so, daß es ihn Mühe kostete, mit einem Wirt über den Preis eines Zimmers zu verhandeln. Das beständige Schweigen meißelte seine Lippen zu unheimlicher Schärfe aus.

Er hörte nichts von seiner Mutter, nichts von seinen Kindern. Es war, als hätte er vergessen, daß es Lebendige gab, die seiner mit Liebe, mit Angst gedachten.

Die einzigen Boten aus der Welt waren Briefe, die er in Zwischenräumen von vier bis fünf Wochen durch das Verlagshaus in Mainz nachgeschickt bekam. Die Briefe waren von der Hand Regina Sußmanns, aber sie trugen ihre Unterschrift nicht, sondern die Schreiberin nannte sich »die Schwalbe«. Und sie redete Daniel mit Du an.

Sie erzählte ihm von ihrem Leben, von Büchern, die sie las, von Menschen, die sie sah, und von ihren Ideen über Musik. Ihre Mitteilungen wurden ihm nach und nach unentbehrlich, ihre Treue rührte ihn, und daß sie sich ihres Namens entäußert hatte, gefiel ihm. Sie hatte eine erstaunliche Feinheit und Kraft im Ausdruck, und so unwahr, so gespannt sie im persönlichen Verkehr auf ihn gewirkt hatte, so überzeugend und natürlich war alles, was sie schrieb. Nie ein Wunsch, daß er geben möge, was er doch nicht geben konnte; nie eine Klage. Dafür eine Leidenschaftlichkeit des Verstandes, die ihm neu war, die er an Frauen noch nicht kannte, eine Glut und Sicherheit im Erfassen seines Wesens, vor der er sich beugte wie vor einer höheren Stimme.

Er beantwortete keinen Brief, doch wartete er nicht selten mit Ungeduld auf den, der fällig war. Oft dachte er an die Schwalbe, in der Nacht, wenn er an ein schwarzes Fenster trat; er dachte an sie wie an einen allsehenden Geist, der in den Lüften haust. Die Schwalbe, das war sinnvoll, die unruhige, zarte, schnelle Schwalbe. Und er sah jene eine, die sich damals in fabelhaftem Bogen über den Kirchenplatz geschwungen hatte, als Eberhard von Auffenberg gekommen war, um ihn zu den verwelkten Blumen zu führen.

Da schrieb er an Philippine: »Schmücke meine Gräber, kauf zwei Kränze und leg sie auf die Gräber!«

»Du mußt zum Wolkengipfel hinan, sonst bist du verloren, Daniel,« lautete eine Stelle in einem der Schwalbenbriefe; »sobald du um eine Einsamkeit weißt, mußt du in eine andere, ungewußte schlüpfen, sobald ein Weg sich dir bahnt, mußt du ins Dickicht stürmen, sobald ein Arm dich umschlingt, mußt du dich losreißen, und gibt's auch Blut und Tränen. Du mußt über die Menschen hinaus, du darfst kein Bürger sein, nichts Liebliches darf dir lieb werden, keinen Begleiter und keine Begleiterin darfst du haben, kühl und still müssen die Zeiten um dich schwingen, erzumschlossen bleibe dein Herz, denn die Musik ist eine Flamme, die im Menschen, der sie gebiert, alles durchbricht und verzehrt, bloß nicht den Stoff, den die Götter um den Auserwählten geschmiedet haben.«

Wie hätte da nicht vollends das Bild der rothaarigen Jüdin entschwinden sollen, vor der Daniel in Widerwillen geflohen war? Da war eine Muse, wie sie von Dichtern erträumt wird. Jüdin, wunderbare Jüdin, dachte Daniel, und dieses Wort, Jüdin, erhielt für ihn eine eigene Bedeutung von Gemütsgewalt und prophetischem Flug.

»Das Werk, Daniel Nothafft, das Werk,« schrieb diese zweite Rahel ein anderes Mal, »der Prometheusraub, wann schenkst du ihn der verarmten Menschheit? Die Zeit ist wie erdig schmeckender Wein, dein Werk muß Filter sein; sie ist wie ein epileptischer Körper im Starrkrampf, dein Werk sei die heilende Hand, die man ihm auf die Stirn legt. Wann endlich gibst du, Sparsamer, wann reifst du, Baum, wann ergießt du dich, Strom?«

Aber dem Baum eilte es nicht, die Früchte abzuwerfen; der Strom fand den Weg lang bis zum Meer; er hatte Gebirge zu durchhöhlen und Felsen zu zerbrechen. O, qualvolle Nächte, in denen bestehende Form wieder und immer wieder verfiel! O hundert qualvolle Nächte, in denen kein Schlaf war, nur aufgeregtes Toben vieler Stimmen! Trübe Morgen, wo die Sonne auf zerfetzte Blätter schien und auf ein verstörtes Gesicht, ein Gesicht voll alter, immer neuer Leiden. Und Mondnächte, wo einer singend dahinschweift, nicht fröhlich singend, sondern singend wie einst die Ketzer auf den Marterbänken der Inquisition; und Regennächte, Sturmnächte, Schneenächte, wo er dem Phantom einer Melodie nachrast, die halb schon sein Eigentum ist, halb noch im grenzenlosen Raum unter den Sternen irrt.

Da wurde alle Landschaft bleiche Vision, Busch und Gras und Blume wie Gespinst in einem Fieber, Menschen, die vorübergingen, und Nebelschwaden, die überm Wald faserten, waren von ein und derselben Beschaffenheit; nichts war greifbar; der Gaumen schmeckte den Bissen nicht, die Finger spürten kein Ding. Schlechtes Wetter war das willkommene; es dämpfte die Geräusche, machte die Menschen stiller. Verflucht die Mühle, die klappert, verflucht der Zimmermann, der den Balken schlägt, verflucht der Fuhrknecht, der die Gäule anruft, verflucht das Lachen von Kindern, das Quaken der Frösche, das Zwitschern der Vögel! Ein Fühlloser blickt auf euch, einer, der stumm und taub ist, einer, der Kleid und Schmuck von der Welt reißen will, damit keine Farbe und kein Glanz sein Auge ablenkt, einer, der bei Nacht zum Himmel fliegt, um das ewige Feuer zu stehlen, und bei Tag in Gräbern wühlt, ein Auswürfling.

Als das Frühjahr kam, begann er den dritten Satz, ein Andante mit Variationen. Es drückte den schauerlichen Frieden aus, den Lenores schlummerndes Antlitz eine Nacht vor ihrem Tod gezeigt. Da waren plötzlich alle Quellen erschöpft, und er wußte nicht, warum seine Hand und seine Phantasie erlahmten.

Eines Abends kehrte er von einer langen Wanderung nach Arnstein zurück, einem Marktflecken im Unterfränkischen, wo er um diese Zeit sein Quartier aufgeschlagen hatte. Er wohnte bei einer Nähterin, einer armen Witwe, und als er in sein Zimmer trat, sah er das Töchterchen der Witwe, ein zehnjähriges Kind, vor der geöffneten Schachtel stehen, in der sich die Maske der Zingarella befand. In harmloser Neugier hatte das Mädchen den Deckel heruntergenommen und war gebannt von dem unerwarteten Anblick.

Als es Daniel gewahr wurde, zuckte es erschrocken zusammen und wollte fliehen. Aber Daniel legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Bleib nur!« Er fühlte den mageren Körper, die furchtsam bebende Gestalt unter seiner Hand, und eine ferne Erinnerung schlug ihm wie mit Krallen in die Brust. Der Mund der Maske schien zu sprechen, Stirn und Wangen leuchteten weiß; wenn er die Augen abwendete, tanzte oben im Raum ein Elfchen, und das Elfchen erregte eine schuldvolle Unruhe in seinem Gemüt.


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