Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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Dorothea

1

Seit vierzehn Tagen wohnten Philippine und Agnes bei Frau Hadebusch; da kam eine Botschaft von Daniel, die beiden sollten nach Hause zurückkehren, oder wenn es Philippine vorziehe, zu bleiben, solle sie Agnes schicken, und zwar sogleich.

»Da ham Se's,« sagte Frau Hadebusch, »der Herr befiehlt.«

»Der befiehlt mir lang gut,« antwortete Philippine tückisch. »Das Kind bleibt bei mir, und ich geh nit hin, basta. Was, Agneslein?«

Agnes hockte auf der Ofenbank neben dem schwachsinnigen Heinrich und las in dem abgeschmierten Heft eines Kolportageromans. Bei Philippines Anruf blickte sie zerstreut empor und lächelte stumpf. Das zwölfjährige Mädchen hatte ausdruckslose Züge und, da sie selten ins Freie kam, eine von der Zimmerluft fast gelbgewordene Haut.

»Nutzt nix,« fuhr Frau Hadebusch fort, die uralt aussah und einer bösen, verkrüppelten Zwergin glich, »er kann das Madel fordern, und er muß es kriegen. Da käm ich am End noch mit dem hohen Gesetz in Umständlichkeit.«

»No, was is, Agneslein, willst zurück zu dein' Vatter?« wandte sich Philippine an das Mädchen und sah die Hadebuschin bedeutungsvoll an.

Agnes Gesicht verfinsterte sich. Sie haßte ihren Vater. So weit hatte es Philippine durch ihre steten Einflüsterungen, ihre gehässigen Erzählungen gebracht. Agnes war überzeugt, daß sie ihrem Vater im Wege sei, und seine Heirat hatte diesen Glauben nur noch mehr befestigt. In ihrem dumpfen Innern trug sie das Bild ihrer früh verstorbenen Mutter als das einer Gemordeten, einer Geopferten. Gar schauerlich hatte ihr Philippine den Selbstmord der Mutter zu schildern gewußt; es war der immer wieder erneute Gesprächsstoff vieler Winterabende, vieler Dämmerstunden gewesen. Dereinst, wenn sie groß sein, wenn sie würde reden können, wollte Agnes Rechenschaft vom Vater verlangen.

Wenn sie würde reden können! Dies war ihr heißester Wunsch. Denn sie war eine Stummgeborene, ihre Seele schmachtete in viel härterer Gefangenschaft als ehemals die ihrer Mutter, weil sie keines Aufblicks und Aufschwungs fähig war, weil nichts in ihr bloß schlief, sondern alles hoffnungslos verdorrt war.

»Zu der Döderleinischen geh ich nicht,« grollte sie.

Aber am Abend kam Daniel. Er zog Philippine beiseite und hatte mit ihr eine ernste Auseinandersetzung. Er erklärte ihr die Gründe seiner Heirat, so gut er es vermochte, ohne auf das Tiefere einzugehen. »Ich hab eine Hausfrau gebraucht, eine junge Gefährtin. Dir, Philippin', schuld ich Dank, doch es muß auch eine neben mir sein, die mich höher stimmt, denn von meinem schweren Beruf weißt du ja nichts. Also bock nicht, Philippin'; schnür dein Bündel und komm heim. Was sollen wir ohne dich anfangen?«

Zum erstenmal sprach er mit ihr wie mit einem Weib und wie mit einem Menschen. Philippine starrte ihn an. Sie schlug eine wilde Lache auf und höhnte: »Ioi, Daniel, wie du einen flattieren kannst. Das hätt ich nit von dir gedacht, bist immer ein ekelhafter Griesgram gewesen. Gut! Sag: liebe Philippine. Sag ganz langsam: liebe Philippine, dann komm ich.«

Daniel schaute verwundert in das nie jung gewesene und schnell alt gewordene Gesicht Philippines. »Narrenspossen,« sagte er unwillig und kehrte sich ab.

Philippine stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Der idiotische Heinrich trat in den Flur und hielt ein Lämpchen hoch.

»Wohnt der fromme Schreiber noch da?« fragte Daniel und schaute voll Erinnerung an der windschiefen Treppe empor.

»Gott sei Dank, nein,« schnarrte Philippine, »das tät noch fehlen. Mir wird übel, wenn ich ein Mannsbild seh.«

Abermals schaute Daniel in ihr häßliches, boshaft verzerrtes Gesicht. Er war gewohnt, alle Dinge, alle Augen, alle Körper um ihr Dasein in Tönen, ihre Verwandlung in Töne zu befragen. Hier fühlte er plötzlich das Tonlose, so wie man beim Anblick eines Tiefseefisches fühlen würde: das Lichtlose. Er dachte an Eva, er sehnte sich in diesem Augenblick nach seiner Eva, und da eben kam Agnes aus der Tür, um nach Philippine zu sehen.

Er legte die Hand auf Agnes' Haar und sagte gutmütig zu Philippine hinüber: »Na also, – liebe Philippin', komm heim!«

Agnes duckte sich hastig und entzog sich seiner Hand, so daß er das Mädchen mit finsterer Überraschung musterte. Philippine jedoch faltete ihre Hände, senkte den Kopf und murmelte ganz demütig: »Is recht, Daniel, wir kommen morgen.«


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