Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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7

Vor seinen Augen wurde es blutrot. Ein Schüttelfrost packte ihn.

Er war Philippine in einem traurigen, schlaffen Gefühl von Ekel, Furcht und Zwang gefolgt; jetzt wußte er, sah am Anfang der Ereignisse schon ihre Mitte und ihr Ende, sah vor der verschlossenen Türe, was sich hinter ihr begab, und ein Ungeheures rauschte auf in seinem Gemüt, ungeheurer Zorn, ungeheures Weh, Verachtung und Grauen in Wirbeln von Besinnungslosigkeit.

Über die knarrende Stiege gelangte er in vier Sprüngen. Er stand vor der Türe, hinter der er einst gedarbt und geträumt, gefroren und geglüht; da hätte Stille sein müssen, damit auf dem Grab vieler Hoffnungen die Andacht rückschauender Geister nicht gestört wurde.

Er riß an der Klinke; drinnen erschallte ein Schrei. Die Tür war verriegelt. Er preßte seinen Körper so ungestüm wider das zerbrechliche Holz, daß beide Angeln sich zugleich mit dem Riegelhalter lösten und die ganze Tür mit dumpfem Gepolter ins Zimmer stürzte.

Der Schrei wiederholte sich gellend. Dorothea lag bis aufs Hemd entkleidet auf einem breiten Bett, das die kupplerische Hadebusch von einem Händler entliehen hatte und das beinahe die Hälfte des Mansardenraums einnahm. Sie hatte einen Teller voll Kirschen neben sich stehen und hatte sich damit belustigt, die Kerne gegen ihren Liebhaber zu schnellen, der, gleichfalls in mangelhafter Bekleidung, rittlings auf einem Stuhl saß und eine kurze Pfeife rauchte.

Als Daniel mit blutenden Händen, er hatte sich an der Klinke verletzt, mit wild ums Gesicht flatternden Haaren, keuchend und totenbleich über die Türe stieg, fing Dorothea abermals zu schreien an, und schrie sieben- oder achtmal verzweifelt und voll entsetzlicher Angst.

Daniel stürzte auf den jungen Menschen zu und fuhr ihm mit beiden Händen an den Hals. Während er die Haut dieses Menschen anfaßte, während er, wie in rosigem Nebel, Dorothea mit aufgehobenen Armen aus dem Bett flüchten sah und ihr durchdringendes Geschrei vernahm, während ein seltsam betrachterischer Geist trotz der Raserei, die in ihm tobte, sogar die Kirschen bemerkte, die über das Bettuch gerollt waren, die grünen Stiele sah, die dunkleren Stellen an einzelnen, die anzeigten, daß sie faul waren, und er zuletzt noch einen Geschmack auf der Zunge spürte, als ob er selber Kirschen gegessen hätte, während all dem dachte er: das ist der Untergang, das ist das Chaos.

Der Amerikaner, von dem sich später herausstellte, daß er ein wandernder Artist war, der sich frech und geschickt in die bürgerliche Gesellschaft gedrängt hatte, stieß den Angreifer mit Wut zurück und nahm eine Boxerposition ein. Aber Daniel verstattete ihm keine Zeit zum Schlag, er überfiel ihn, umschlang ihn, riß ihn zur Erde, drückte ihm die Gurgel zusammen. Jener stöhnte, bäumte sich, befreite seine Faust, schlug um sich; »damned fool,« röchelte er und versetzte Daniel einen Schlag ins Gesicht, »damned fool!«

Unten im Haus erschallte Lärm. Auf der Gasse sammelten sich Leute an. »Polizei! Polizei!« gilfte eine Weiberstimme, und nun kamen sie die Stiege herauf.

»Och, och, och!« wimmerte Dorothea. In einer halben Minute hatte sie ihr Kleid über den Körper gezogen; »fort, fort, fort!« hauchte sie und suchte ihre Handschuhe und ihren Schirm.

Händeringend zeigte sich Frau Hadebusch im engen Flur. Hinter ihr stand Philippine. Zwei Männer drangen über die Schwelle, stürzten sich auf Daniel und den Amerikaner und wollten sie auseinanderreißen. Aber sie hatten sich gleichsam ineinander verbissen wie zwei wütende Hunde. Andere mußten zu Hilfe kommen, ein Soldat und ein Milchmann griffen noch zu, endlich erschienen zwei Polizisten.

»Muß nach Hause,« wimmerte Dorothea unter dem Gekreisch der Weiber, »meine Sachen holen, fort, fort, fort!«

Mit einem Gesicht, das grauenhaft dem einer stummen Besessenen glich, stahl sich Philippine aus der Mitte der aufgeregt Schreienden und Schwatzenden und folgte Dorothea. Sie spürte ihren Schritt nicht, das Pflaster nicht, die Luft nicht. Jene wilde Begeisterung war über sie gekommen, die sie schon einmal in ihrem Leben empfunden, damals, als sie auf den Dachboden gegangen war und gesehen hatte, daß Gertrud am Balken hing.

Eine glühende Zerstörungslust durchrann alle ihre Adern. Zünde an! dröhnte es wieder in ihrem Hirn, zünde an! Heute wollte sie ein besseres Werk tun, als Feuer an einen Kehrichthaufen legen. Sie ging immer schneller und schneller; schließlich fing sie an zu laufen und sang dabei mit rauher Stimme. Der Mantel war nicht zugeknöpft und flog im Winde. Die Leute, an denen sie vorüberraste, blieben erstaunt stehen.


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