Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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11

Die Not wuchs empor wie ein purpurner Schein. Es war für ihn etwas Lächerliches in der Tatsache: man schrieb das Jahr 1882, und er hatte nichts zu essen; er war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte nichts zu essen.

Frau Hadebusch zeterte megärenhaft auf den Stiegen. Die Miete war überfällig, und es fanden unheimliche Beratungen in der Wohnstube statt, an denen ein Invalide vom Wespennest und ein Seifensieder aus der Kamerariusstraße teilnahmen.

In seiner Verzweiflung dachte er an den Militärdienst. Er ging in die Kaserne, um sich zu stellen, wurde untersucht und wegen Schmalbrüstigkeit abgewiesen.

Zuerst war der purpurne Schein. Noch als er auf dem Henkersteg stand und ins Wasser schaute, wo kleine Eisschollen trieben. Aber als er den bedrängten Blick erhob, sah er ein riesenhaftes Antlitz. Der ganze Himmel, der sich über ihm wölbte, war ein Antlitz, furchtbar entstellt durch Rache und Hohn. Man konnte nicht entfliehen; im Innern der Brust wurde es dunkel, Bilder und Töne zerflossen in einer schauerlichen Weise, als ob ein nasser Lappen darüber gewischt würde.

Im Weitergehen schien es ihm, wie wenn sich die Gräßlichkeit des Gesichtes verringere, es wurde kleiner und milder; es war nur noch so groß wie die Fassade einer Kirche, und nur noch in der Stirn verkündete sich Zorn. Da ging eine Frau vorüber, die Äpfel in ihrer Schürze trug; beim Geruch der Früchte zitterte er, aber er langte nicht hin, ihr einen Apfel zu nehmen, einen einzigen bloß, er hatte sich noch in der Gewalt, und da war das Antlitz nur noch so groß wie ein Baumwipfel und hatte Züge des Erbarmens.

Die Sonne stand am Himmel, der Schnee taute, in der Luft zwitscherten Sperlinge. Durch die Pfannenschmiedsgasse wankend, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Da war das Gesicht; körperhaft erblickte er es am Türpfosten eines Ladens. Daß es die Maske der Zingarella war, vermochte er nicht zu erkennen, es war ja ein verwandeltes Gesicht, und wie hätte er jetzt eine Wirklichkeit fassen sollen? Er schaute von innen nach innen, das Ding außer ihm war Vision, es verband das Firmament mit der unteren Erde, es war eine Verheißung. Er hätte sich auf das Pflaster hinwerfen und schluchzen mögen, denn ihm war, als sei er gerettet.

Der unvergleichlich hingegebene holde Schmerz im Ausdruck der Maske, die Seligkeit unter den langbewimperten Lidern, das halb erloschene Lächeln um den wehen Mundbogen, und etwas Geisterhaftes noch, ein Dasein fern von Tod und Leben, all dies steigerte sein Gefühl zu abergläubischer Andacht, die ganze Zukunft schien ihm vom Besitz der Maske abzuhängen, und ohne zu überlegen stürzte er in den Laden.

Drinnen stand ein junger Mann, den der Gießer sehr respektvoll als Doktor Benda anredete, und der etwa dreißig Jahre alt sein mochte. Der Gießer zeigte ihm die gelungenen Abgüsse einiger Figuren vom Tugendbrunnen, und es dauerte ziemlich lange, bis er sich nach Daniel umdrehte und nach seinem Begehren fragte. Mit rauher Stimme und einer trunkenen Geste bedeutete ihm Daniel, daß er die Maske haben wolle. Der Gießer nahm die Maske vom Pfosten draußen, legte sie auf den Ladentisch und nannte den Preis. Er musterte den abgerissenen Anzug des Kauflustigen, dachte, daß ihm die geforderte Summe von zehn Mark zu hoch dünken mochte, und wandte sich, um ihm Zeit zur Überlegung zu geben, wieder an jenen jungen Mann.

Sie hatten eine Weile miteinander gesprochen, da schaute sich der Gießer um und sah, daß Daniel noch immer am Ladentisch stand. Mit halbgeschlossenen Augen und verzogener Stirne stand er dort und hatte die linke Hand mit ihrer ganzen Fläche auf das Gesicht der Maske gelegt. Der Gießer tauschte einen verwunderten Blick mit Doktor Benda, und der begriff in einer Regung ahnungsvoller Teilnahme die Situation des ihm fremden Menschen, seine Armut, seine Verlassenheit; sogar die Glut des Wunsches in ihm. Das Gefühl gewohnter Zurückhaltung sichtlich bekämpfend, trat er auf Daniel zu und sagte ohne eine Spur von Gönnerhaftigkeit, ernst, ruhig und schonend: »Wenn Sie mir erlauben wollen, das Geld für die Maske auszulegen, bereiten Sie mir eine Freude.«

Daniel knirschte ein wenig mit den Zähnen, und sein Blick funkelte grünlich auf. Aber das geistig erfahrene Gesicht des andern hatte einen Glanz von Menschlichkeit, der ihn weich stimmte und unterwarf. Er ließ es schweigend geschehen, daß Doktor Benda das Geld für die Maske auf den Tisch legte.

Als sie den Laden des Gießers verlassen hatten, Daniel hielt die eingepackte Maske krampfhaft unterm Arm, fiel Benda die körperliche Zerrüttung seines Begleiters auf, und es bedurfte nicht vieler Fragen für ihn, um die Ursache zu erkennen. Er tat, als hätte er noch nicht zu Mittag gegessen, lud Daniel ein, ihm Gesellschaft zu leisten und ging mit ihm in die nahegelegene Wirtschaft zur blauen Traube.

Wie mit einem Zauberschlüssel fühlte Daniel sein Inneres aufgeschlossen, endlich ein hörendes Ohr, endlich ein sehendes Auge, ihm war, als steige er aus Bergwerksschächten herauf, und als sie sich trennten, besaß er einen Freund.


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