Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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13

Die nahenden Vierzig erschienen Daniel wie ein finsteres Tor zum Niedergang. Erraffe, was noch zu erraffen ist, rief eine Stimme in ihm, auf den Gräbern wächst Gras.

Die Sinne tobten wider den Geist, wider das Herz. So wie jetzt hatte er Frauen nie angeblickt.

Eines Tages fuhr er nach Siegmundshof hinaus. Eberhard war auf Reisen. In Sylvias Gesicht lag eine stille Melancholie. Sie hatte drei Kinder, eins hübscher als das andre, aber wenn ihr Auge auf ihnen ruhte, war es voll Trauer. Frauen, die in der Ehe leiden, haben erloschene Züge, und ihre Hände sind durchsichtig und gelb.

Rascher, als er gewollt, nahm Daniel wieder Abschied. Er empfand einen egoistischen Unwillen gegen die Freudlosen.

Er ging zu Herrn Carovius. Die Lachende, die er suchte, traf er nicht.

Herr Carovius sah ihn bisweilen argwöhnisch an. Das Gesicht seines alten Feindes gab ihm zu denken. Es war durchpflügt wie ein Acker und von Flammen verbrannt wie ein Herdstein. Es war ein Sträflingsgesicht, verbissen, ausgemergelt, gespannt und bedrohlich umwittert. Herr Carovius verstand sich auf Gesichter.

Um dem leeren Gerede zu entkommen, spielte Daniel Herrn Carovius einige alte Motetten vor. Herr Carovius war so begeistert, daß er in seine Vorratskammer lief und ein halbes Dutzend Borsdorfer Äpfel holte, die er Daniel in die Taschen steckte. Diese Äpfel kaufte er im Herbst metzenweise und hütete sie wie einen Schatz.

»Bei solcher Musik könnte man wahrhaftig ein frommer Christ werden,« äußerte er sich.

»Es ist Frühling drin,« antwortete Daniel, »da ist die Kunst noch unschuldig wie junge Saat. Aber Ihr Instrument ist verstimmt.«

»Symbol, Symbol, geschätzter Freund,« rief Herr Carovius und blähte die Backen auf; »aber wenn Sie wiederkommen, ist der Schaden gerichtet. Kommen Sie nur fleißig, Sie verdienen sich einen Gotteslohn damit.«

Herr Carovius, um Gesellschaft bettelnd; es hatte etwas Ergreifendes. Daniel versprach, einige von den Handschriften mitzubringen, die er gesammelt. Als er ein paar Tage später kam, war Dorothea da, und dann jedesmal. Und seine Besuche wurden immer länger. Als Herr Carovius bemerkte, daß nun auch Dorothea häufiger kam, setzte er alles daran, um Daniel zu bewegen, täglich zu kommen. Er überschüttete ihn mit Vorwürfen, wenn er einmal ausblieb; selbst bei Verspätungen begrüßte er ihn mürrisch und scheute nicht vor indiskreten Fragen zurück. An den Nachmittagen, wo er allein war, rückte die Zeit nicht vom Fleck; da glich er einem Trinker, dem man das gewohnte Quantum Schnaps vorenthält. Die Gegenwart der beiden Menschen wurde ihm so unentbehrlich, wie ihm in vergangenen Jahren die Zeitungslektüre, die Brüder vom Jammertal, die Bedrängnisse Eberhards und die Beerdigungen unentbehrlich gewesen waren. Dem Kleinbürger wird jede Gewöhnung zur Leidenschaft.

Wenn Daniel die alten Kirchenchöre spielte, hörte Dorothea ruhig zu, verhehlte aber die Langeweile nur schlecht, die sie dabei empfand.

Einmal geriet die Rede auf ihr Geigenspiel, und Herr Carovius drang in sie, sie möge doch etwas zum besten geben. Sie weigerte sich ohne Ziererei. Daniel sprach kein Wort der Aufmunterung. Er fand, daß diese Bescheidenheit sie lieblich kleidete; er glaubte, Erkenntnis und Entsagung darin zu spüren und lächelte ihr freundlich zu.

»Erzählen Sie lieber etwas!« sagte sie zu Daniel. Allmählich trat es zutage, daß sie keinen andern Wunsch hatte als diesen.

»Ich bin ein schlechter Erzähler,« versetzte Daniel, »ich hab eine schwere Zunge.«

Sie bat ihn aber mit gestammelten Worten und flehentlichen Gebärden. Herr Carovius kicherte. Daniel nahm die Brille ab, putzte sie und schaute das Mädchen mit verkniffenen Augen an. Es war, als hätte ihn die Brille gehindert, Dorothea genau zu sehen, oder als ziehe er es vor, sie undeutlich zu sehen. »Wüßte nicht, was ich erzählen sollte,« meinte er kopfschüttelnd.

»Alles, alles.« rief Dorothea in seltsamer Begehrlichkeit und streckte die Hände aus. Ihm erschien das kindlich. Er hatte nie einem Kind erzählt. Er hatte überhaupt nie erzählt; Gertrud und Lenore gegenüber hatte ihm die Not einer Stunde Bekenntnis und Klage entrissen, mehr war es nicht gewesen, hatte es nicht sein dürfen.

Plötzlich lockte ihn das Wort, in welchem sein Schicksal sich ruhig spiegeln würde; lockte ihn das feurig-junge Auge, in dessen Glanz das Wirre einfach, das Dunkle hell werden konnte; lockte ihn der böse alte Mann, dem in seinem Sumpfloch die ganze Welt zur giftigen Speise geworden war.

Und mit seiner brüchigen Stimme erzählte er von den Ländern, in denen er gewandert war; vom Meer und von den Städten am Meer; von den Alpen und ihren Seen, von Domen und Palästen und Klöstern, von wunderlichen Leuten, denen er begegnet war, von seiner Arbeit, seiner Einsamkeit, alles ohne rechten Zusammenhang, trocken und lieblos. Trotz der Lockung wich er dem, was an inneres Erlebnis streifte, im letzten Augenblick stets aus. Als er von der Jüdin sprach, von der Schwalbe, beendete er sogar den Satz nicht, machte eine lange Pause und schilderte dann ganz unvermittelt, wie er nach Eschenbach gegangen war. Auch hier stockte er wieder.

Aber Dorothea fragte. Es war ihr alles zu allgemein, und sie schien unzufrieden. »Was war in Eschenbach?« fragte sie kühn, »warum sind Sie dort gewesen?«

Er täuschte sich über die brennende Begehrlichkeit in ihren Augen. Es überlief ihn wohlig, er glaubte edle Menschenwärme zu spüren. Es ergriff ihn das Verlangen des reifen Mannes, eine unberührte Seele nach einem erträumten Bild zu formen. »Meine Mutter hat dort gelebt,« antwortete er zögernd, »sie ist gestorben.«

»Ja, – und?« hauchte Dorothea. Sie hatte erfaßt, daß das nicht alles war.

Da fühlte er seine starre Zurückhaltung wie Schuld. Noch zögernder, sofort bereuend, fügte er hinzu: »Auch ein Kind von mir hat dort gelebt; elf Jahre alt. Es ist verschwunden, niemand weiß, wohin.«

Dorothea faltete die Hände. »Ein Kind? Und verschwunden? Ganz einfach verschwunden?« flüsterte sie erregt.

Herr Carovius sah aus wie einer, der auf einem heißen Rost sitzt. »Elf Jahre alt?« fragte er sensationshungrig, »das war ja dann noch . . . vor der Zeit . . .«

»Ja, es war vor der Zeit,« bestätigte Daniel düster. Er hatte sich verraten; er war sich gram. Er schwieg, und es war kein Wort mehr aus ihm herauszubringen.

Herr Carovius beobachtete, wie Dorothea mit ihren Blicken an Daniel hing. Ein quälender Verdacht stieg in ihm auf. »Gestern auf dem Josefsplatz hab ich einen deiner Verehrer gesprochen, den Kulissenzertrümmerer,« begann er mit vorbedachter Bosheit; »der Kerl hat die Stirn gehabt, mir zu sagen: Sorgen Sie nur, daß die Dorothea Döderlein bald einen Mann kriegt, sonst reden sich die Leut noch die Zunge aus dem Hals.«

»Das ist nicht wahr!« rief Dorothea entrüstet und wurde rot bis in die Haarwurzeln, »das hat er nicht gesagt.«

Herr Carovius lachte schadenfroh; »wenn's nicht wahr ist, ist's doch gut gedichtet,« sagte er meckernd.

Als Daniel sich verabschiedete, ging auch Dorothea und begleitete ihn in den Hausflur.

»Schade,« murmelte Daniel, »schade.«

»Warum schade? Ich bin frei, keiner hat ein Recht auf mich.« Sie sah ihn mit einem mutigen Weiberblick an.

»Es gibt Worte, die sind wie Schmutzflecken,« entgegnete er.

»Wer kann sich hüten vorm Schmutz?« fragte sie fast wild.

Daniel ließ sein Auge prüfend auf ihrem Gesicht ruhen wie auf einem Gegenstand. Langsam und ernst sagte er: »Lassen Sie die Hände und Augen von mir, Dorothea. Ich bring kein Glück.«

Ihre Lippen öffneten sich durstig. »Möcht gern einmal mit Ihnen spazieren gehen,« flüsterte sie, und ihre Züge zitterten in einem Entzücken, von dem er betört glaubte, es gelte ihm, während es nur der Erwartung des Abenteuers galt und der Enthüllung des Geheimnisses.

»Vor vielen Jahren,« sagte Daniel, »Sie werden sich kaum mehr erinnern, hab ich Sie hier unterm Tor vor einem großen Hund in Schutz genommen. Erinnern Sie sich?«

»Nein. Oder doch; ja, ganz dunkel erinner' ich mich. Das waren Sie?« Dorothea ergriff dankbar seine Hand.

»Gut, gehen wir morgen, gehen wir irgendwo hinaus,« sagte Daniel.

»Sie müssen mir aber alles erzählen, alles, alles,« drängte Dorothea wie vorhin im Zimmer, nur noch ungestümer und ungeduldiger.

Sie bestimmten den Ort, wo sie sich treffen wollten.


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