Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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11

Anfangs hatte Marianne hie und da eine kurze Nachricht von Daniel erhalten. Dies geschah immer spärlicher; im zweiten Jahr schickte er ihr bloß zu Weihnachten ein paar Zeilen.

Um die Zeit, als er seine letzte Arbeitsstelle verließ, schrieb er auf einer Postkarte, daß er seinen Aufenthaltsort wieder einmal verändere, aber daß er nach Nürnberg ging, unterließ er ihr mitzuteilen. Frühling und Sommer verflossen, da wurde ihr zwischen Furcht und Hoffnung schwankendes Gemüt durch einen Brief Jason Philipps grausam aus der Unentschiedenheit gescheucht.

Er schrieb, Daniel treibe sich in Nürnberg herum; er habe ihn vor einigen Tagen zufälligerweise unter den Meßbuden auf der Insel Schütt gesehen, in einem Aufzug, den zu schildern die Feder sich sträube. Als er ihn stellen gewollt, sei er verschwunden gewesen. Was ihn in die Stadt geführt, darüber könne er, Jason Philipp, keine Auskunft geben, aber es sei zehn gegen eins zu wetten, daß wieder ein ganz niederträchtiger Streich zugrunde liege, denn der Bursche habe nicht ausgesehen wie einer, der sich anständig durchbringt. Er schlage Marianne vor, zu kommen und bei der Razzia auf den Strolch zu helfen, man müsse, ehe es zu spät sei, verhindern, daß der unbescholtene Name, den er trage, dauernd verunglimpft werde. Als Reisebeitrag sende er hierzu fünf Mark in Briefmarken.

Mittags hatte Marianne den Brief erhalten, hatte Laden und Haus verschlossen, um zwei Uhr befand sie sich auf dem Ansbacher Bahnhof, und um vier Uhr kam sie in Nürnberg an. Ihr Köfferchen in der Hand tragend, fragte sie sich von Straßenecke zu Straßenecke nach der Plobenhofgasse durch.

Therese saß hinter der Ladenkasse. Das braune Haar auf ihrem viereckigen Bauernkopf war glatt frisiert. Zwanziger, der sommersprossige Gehilfe, war mit dem Auspacken von Büchern beschäftigt. Therese begrüßte die Schwester scheinbar freundlich, verließ aber ihren Platz nicht, sondern reichte bloß die Hand über das Tintenfaß hinüber und musterte Mariannes armselige Erscheinung, die verschossene Mantille und das altmodische Stoffhütchen, dessen schwarze Sammetbänder unter dem Kinn zur Masche geknüpft waren.

»Geh einstweilen hinauf,« sagte sie, »unterhalte dich mit den Kindern, Rieke soll deinen Koffer holen.«

»Wo ist dein Mann?« fragte Marianne.

»Bei einer Wählerversammlung,« antwortete Therese mürrisch; »sie können sich ja nicht versammeln, wenn er fehlt.«

Jetzt trat ein Mann im Arbeitskittel in den Laden und fing an, mit leiser, aber erregter Stimme auf Therese einzusprechen. »Ich habe das Werk gekauft, das Werk ist mein Eigentum,« sagte der Mann, »und wenn man mit der Rate mal aussetzt, so ist das kein Grund, daß man sein Eigentum verliert. Das sind Praktiken, Frau Schimmelweis, Praktiken sind das.«

»Was hat denn Herr Wachsmuth von uns bezogen?« wandte sich Therese an den Gehilfen Zwanziger.

»Schlossers Weltgeschichte,« war die prompte Erwiderung.

»Da müssen Sie halt Ihren Vertrag lesen,« sagte Therese zu dem Arbeiter, »im Vertrag ist alles festgesetzt.«

»Das sind Praktiken, Frau Schimmelweis, Praktiken sind das,« wiederholte der Mann, als ob in diesem Ausdruck alles enthalten sei, was ihm an vernichtendem Urteil zu Gebote stand; »unsereiner will sich fortbringen, unsereiner will was lernen; gut, denkt man, kaufst dir ein Buch, rückst um eine Charge hinauf in deinen Kenntnissen. Gut, man geht zu einem Parteifreund, man geht zum Buchhändler Schimmelweis, da ist man geborgen, denkt man. Für schwere sechzig Mark schafft man sich eine Weltgeschichte an, rackert sich die Raten vom Lohn ab, und auf einmal, mir nichts, dir nichts, wenn man schon die Hälfte gezahlt hat, soll man sein Eigentum wieder verlieren, weil man zweimal im Rückstand geblieben ist. Das sind Praktiken, Frau Schimmelweis, Praktiken sind das.«

»Lesen Sie Ihren Vertrag,« sagte Therese, »da ist jeder Punkt festgesetzt.«

»Kein Wunder, daß man dabei reich wird,« fuhr der Arbeiter mit immer lauter werdender Stimme fort und blickte zornig auf Jason Philipp, der mit eingedrücktem Hut und kotbespritzter Hose eben zur Ladentür hereinschoß, »kein Wunder, daß man sich Häuser kaufen und in Grundstücken spekulieren kann. Jawohl, Schimmelweis, das sind Praktiken, und ich pfeif auf Ihren Vertrag. Von allen Seiten hört man's ja, wie Sie's treiben, was für eine Fuchsfalle das ist mit den Ratenzahlungen und wie Sie den Arbeiter bewuchern. Erst wird ihm die Bildung angepriesen, und dann wird er geschröpft damit. Pfui Teufel!«

»Nehmen Sie sich zusammen, Wachsmuth!« rief Jason Philipp streng.

Wachsmuth ergriff seine Kappe und schlug die Ladentüre hinter sich zu.

Marianne Nothaffts Augen liefen mechanisch über die Titel einer Reihe feuerfarbenen Broschüren, die auf dem Tisch ausgebreitet waren. Sie las: »Auf zur Entscheidungsschlacht«; »Moderne Sklavenhalter«; »Dem Armen sein Recht«; »Christentum und Kapitalismus«; »Die Verbrechen der Bourgeoisie«. Obwohl ihr diese Schlagworte nichts bedeuteten und nichts sagten, spürte sie in ihrer Brust auf einmal wieder jenen alten, schon vergessenen Haß gegen die Maschine.


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