Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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7

Zu jener Zeit herrschte noch allgemein der Aberglaube, daß im Zimmer einer Kindbetterin das Fenster nicht geöffnet werden dürfe. Deshalb war immer eine üble Krankenluft in der Stube, die Lenore nur mit Mühe ertrug, und in der sie nicht schlafen konnte. Ferner war dem Tageslicht der volle Zutritt nicht gestattet, und da der Raum ohnehin düster war, machte ihn der grüne Vorhang, der bis zur halben Höhe des Fensters herabgelassen war, noch düsterer.

Das Unbequemste aber waren die vielen Visiten von Frauen, die anzunehmen durch den Brauch vorgeschrieben war. Es kam die Gattin des Theaterdirektors, es kam Martha Rübsam, es kam die Hofrätin Kirschner, es kam die Metzgerin und die Bäckerin und die Frau Pfarrer und die Frau Medizinalrätin und die Frau Apotheker, und alle erteilten Ratschläge und alle brachen in Rufe des Erstaunens aus über die Schönheit des Neugeborenen. Einmal traf Daniel eine solche Versammlung in der Stube, blickte wortlos von einer zur andern, warf den Kopf zurück und ging wortlos wieder hinaus.

Der Provisor Seelenfromm und Monsieur Rivière ließen sich ebenfalls den Weg nicht verdrießen, und sie wurden im Flur von Lenore abgefertigt. Und eines Tages erschien gar Herr Carovius, um sich teilnehmend zu erkundigen. Diesem gab Philippine Auskunft, Philippine, die jetzt schlechte Zeiten hatte, da sie nicht zu Gertrud in die Stube durfte. Gertrud wollte sie durchaus nicht sehen.

Um mit ihrer Arbeit, die ja Brotverdienst bedeutete, nicht gar zu weit im Rückstand zu bleiben, schob Lenore den Tisch ans Fenster und schrieb trotz des ungenügenden Lichts und abends bei der Lampe, obwohl ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen.

Nach drei Tagen hatte aber Gertrud keine Milch mehr in der Brust. Da mußte das Kind künstlich ernährt werden, und es schrie nun viele Stunden hindurch ununterbrochen. Beruhigte es sich endlich, so mußten Windeln gewaschen oder ein Bad gerichtet werden, oder Gertrud wollte etwas haben, oder es kam eine der lästigen Besucherinnen. Lenore mußte die Arbeit ganz beiseite legen, am Abend fiel sie aufs Bett und schlummerte zwei Stunden schmerzhaft tief; war es nicht der Säugling, dessen hungriges Geschrei sie weckte, so war es der Druck der schlechten Luft. Der Kopf tat ihr weh und immer weher, doch sie verbarg ihre Schwäche, ihre Sehnsucht, ihre Beklommenheit, und nicht einmal Daniel merkte ihr etwas an.

Sie konnte in dieser Zeit wenig mit ihm sprechen. Aber vielleicht gab es auf der Welt nicht ein zweites Paar Augen, das so beredt sein konnte wie ihres in Mahnung, in Verheißung, in Bitte, in herzlicher Resignation. Eines Abends trafen sie sich vor dem Kücheneingang. »Lenore, ich ersticke,« raunte er ihr zu.

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und blickte ihn ruhig an.

»Geh mit mir,« drängte er wie ein dummer Bub, »geh irgendwohin mit mir, geh ganz und gar fort mit mir.«

Lenore lächelte. Sie dachte: das menschliche Gemüt geht in seinen Forderungen immer um einen Schritt über das Mögliche und Erreichte hinaus.

Am anderen Morgen stürmte er ins Zimmer; Lenore saß noch halbangekleidet da, und mit wunderbarem Zorn schaute sie ihn an, während sie nach einem Tuch langte und es um die Schultern schlug. Doch er setzte sich zu Gertrud ans Bett, und seine Worte überstürzten sich: »Ich will ›Wanderers Sturmlied‹ komponieren. Ich denk es als Seitenstück zur ›Harzreise‹ und zyklisch mit ihr verbunden. Die ganze Nacht hab ich nicht geschlafen; das Hauptmotiv ist gar zu herrlich.« Und er fing in Fisteltönen an zu krähen: »›Wen du nicht verlässest, Genius, nicht der Regen, nicht der Sturm haucht ihm Schauer übers Herz.‹ Wie gefällt dir das?«

Gertrud sah ihn begeistert an.

»Darauf müßte man einen guten Tropfen trinken,« fuhr er fort, »selten hab ich solche Lust auf eine Flasche Wein gehabt. Hundsföttisch, daß man sich so was nicht leisten kann. Aber wartet nur, laßt mich nur zu Geld kommen, dann steht jeden Tag eine Bouteille Tokaier auf meinem Tisch.«

»Joi, der gibt's nobel,« ließ sich Philippine boshaft vernehmen, die unhörbar eingetreten war und Daniels Worte gehört hatte.

Daniel winkte ihr unwirsch zu, sie solle schweigen und hinausgehen. Er achtete nicht auf ihre Erwiderung, sondern unterbrach sie gleich und rief: »Irgendetwas muß geschehen. Kann ich nicht trinken, so will ich wenigstens tanzen. Tanz mit mir, Lenore, zier dich nicht, komm, laß uns tanzen.« Er umfing Lenore, preßte sie an seine Brust, sang eine Walzermelodie und zog die verlegen Widerstrebende mit sich fort.

Philippine schlug ihr schepperndes Gelächter auf, dann sagte sie laut, die Hofrätin Kirschner sei draußen und wolle die Frau Kapellmeister besuchen. Gertrud machte eine flehende Gebärde gegen Daniel, im selben Augenblick begann das Kind zu weinen, Lenore riß sich aus Daniels Armen los, ordnete ihre Haare und eilte an die Wiege. Philippine öffnete die Tür, um die Hofrätin hereinzulassen, da erschallte draußen ein heftiger Wortwechsel. Man hörte die Stimme des Inspektors und die eines fremden Mannes.

Es war der Möbelhändler, der auf eine barsche Weise das Geld für die Wiege verlangte, die er geliefert hatte. Er behauptete, schon viermal dagewesen und immer vertröstet worden zu sein. In der Tat ging es Daniel jetzt äußerst knapp mit dem Gelde.

Die Hofrätin zog Daniel beiseite und bot ihm in freundlicher Weise ein Darlehen von zweihundert Mark an. Als Daniel schwieg und mit verkniffenen Lippen zu Boden schaute, schalt sie ihn aus. »Immer sich selber Feind sein,« sagte sie; »keine Umstände, lieber Nothafft, heute mittag schick ich's Ihnen, und wenn Sie mal was übrig haben, zahlen Sie mir's zurück.«

Daniel ging hinaus und gab dem polternden Händler sein letztes Zehnmarkstück.

Die Hofrätin hatte für Gertrud eine Flasche Tokaier mitgebracht, denn der Tokaierwein galt damals für eine Art Lebenselixier.

»Siehst du, so schnell werden Wünsche erfüllt,« sagte Gertrud am Abend zu Daniel, als er in ihre Stube kam. Und sie schenkte ihm ein Glas voll ein.

»Habt ihr noch Rechnungen zu bezahlen?« wandte sich Daniel halb an Gertrud, halb an Lenore und klappte sein Portemonnaie auf, in welchem es von Gold funkelte. »Hofratsgold,« sagte er, »echtes Hofratsgold. Wie schön es dreinsieht, lausig schön. Und von so was hängt das Heil meiner armen Seele ab!« Er schüttete alles Gold auf Gertruds Bettdecke, streckte die Zunge heraus und kehrte ekelnd sich hinweg.

Lenore hielt ihm das Glas Tokaier hin, ihre Augen schimmerten feucht.

»Nein, Lenore,« sagte er, »ich hab mir's verscherzt heute. Hab in meinem Übermut gedacht, ich könnt was vorwärts bringen. Setz mich hin und brüte, aber es war nur ein Windei. Da ist einem dann zumut, als hätte man einen falschen Schwur getan. Zu was bin ich nutze, Lenore, zu was bin ich nutze, Frau? Sagt mir das doch.«

»Trink nur,« bat Lenore, »vielleicht vergehn die Grillen.« Und sie strich ihm mit der Hand über die Stirn.

Da rief Gertrud der Schwester zu: »Laß ihn! Stell das Glas weg!« Mit so harter Stimme rief sie es, daß Lenore bestürzt zurücktrat und Daniel sich erhob.

»Laßt mich jetzt allein,« sagte sie nach einer Weile, und Daniel und Lenore gingen aus dem Zimmer.

Drüben in der Wohnstube setzte sich Lenore an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Was soll denn nun werden, Daniel?« fragte sie, und der Geigenton in ihrer Kehle hatte etwas Ergreifendes.

Daniel stellte die Kerze, die er getragen, in den Erker. Er beugte sich über den Tisch und faßte Lenores Hände bei den schmalen Gelenken. »Nimm das Bittre hin um des Süßen willen,« murmelte er. »Glaub an mich, glaub an dich, glaub an das höhere Gesetz. Ich darf's mir nicht bloß eingebildet haben, daß es ein Flügelwesen für mich gibt. Ich muß mich an irgend etwas klammern können, an etwas Unzerstörbares, ja, ich sag's gerade heraus, an etwas Übermenschliches.«

»An etwas Übermenschliches,« wiederholte Lenore mechanisch, und sie dachte daran, daß er ja auch von der andern, von seinem Weib, das Übermenschliche forderte. Mit einer unendlich scheuen Bewegung hob sie den Zeigefinger, wie um ihn zu warnen.

Doch Daniel sah es kaum. In seiner Anmaßung und Leidenschaft hätte er den ganzen Weltbau zertrümmern und neu schaffen mögen, nur um dieses einzige Geschöpf so zu formen, wie er es wollte, grenzenlos gefügig und tätig liebend zugleich, ehrwürdige Gebote selbstherrlich verwerfend und den aus Not und Trotz erzeugten heiter vertrauend.

»Mir ist's kalt,« flüsterte Lenore erschauernd und sah in die tiefen Schatten des Raumes.


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