Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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3

An einem Sonntagnachmittag im April wanderten sie über Land. Gertrud litt seit einigen Wochen an beständiger Müdigkeit und konnte nicht mitgehen.

Lenore war eine treffliche Fußgängerin, und es bereitete Daniel einen Genuß, mit ihr in gleichem, starkem Schritt dahinzueilen. Die rasche Bewegung steigerte seine Empfänglichkeit für die wechselnden Landschaftsbilder, ganz anders als bei den Spaziergängen mit der bedächtigen und gern selbstvergessen schmachtenden Gertrud.

Nach einer Stunde trübte sich der blaue Himmel, die Sonne hörte auf zu scheinen und große Tropfen begannen zu fallen. Lenore hatte weder Schirm noch Mantel mitgenommen und ging rascher. Bei einiger Bemühung konnten sie das hinter dem Wald gelegene Gasthaus erreichen und sich dort vor dem ärgsten Unwetter in Schutz bringen.

Als sie in dem Gedränge vieler Leute, die über die Landstraße zu demselben Asyl geflüchtet waren, in den Flur des Wirtshauses schlüpften, öffneten sich die Schleusen des Himmels und ein Wolkenbruch stürzte nieder. Lenore, die erhitzt war, wollte nicht in der Zugluft stehen bleiben, und sie gingen daher in den Saal, der so voller Menschen war, daß sie lange nach einem Platz suchen mußten. Eine Arbeiterfamilie, Mann und Frau und vier kränklich aussehende Kinder, rückte willig zusammen, die beiden jüngsten Knaben überließen ihnen ihre Stühle und suchten sich zwei andere.

Die tiefziehenden Wolken hatten eine verfrühte Dunkelheit verursacht, und es wurden Öllampen angezündet, deren Qualm sich mit den übrigen schlechten Ausdünstungen vermischte. Ein paar Dorfmusiker bliesen ein unnennbares Stück, und den Kindern des Arbeiters leuchteten die Augen. Weil sie so artig und bläßlich dasaßen, strich Lenore jedem ein Butterbrot. Die Frau bedankte sich schön, und mit dem Mann, der sich als Aufseher in einer Spiegelglasfabrik zu erkennen gab, ließ sich Daniel in eine Unterhaltung über die Not der Zeit ein.

Plötzlich gewahrte er an einem unfernen Tisch eine bekannte Physiognomie, die dann zur Seite wich, um in dem brandigen Zwielicht einer zweiten, ebenfalls bekannten Raum zu schaffen, hierauf einer dritten und einer vierten. Es sah gespenstisch aus, und erst nach einer Weile wußte er, wohin die Leute gehörten.

Herr Hadebusch und Frau Hadebusch, Herr Francke und Herr Benjamin Dorn hatten sich einen vergnügten Sonntag gemacht. Die Bürstenmachersgattin strahlte, als sie ihren ehemaligen Mieter entdeckt hatte. Sie nickte, sie blinzelte, sie faltete gerührt die Hände, und Herr Hadebusch erhob prostbietend sein Bierglas.

Es mußte ein Mißverständnis in bezug auf die Person Lenores obwalten; sicherlich hielten sie Lenore für Daniels Frau. Dieses Mißverständnis schien dann durch den Methodisten, der den Schwanenhals gierig reckte, aufgeklärt zu werden. Zwar blinzelte und nickte das dämonische Weib noch immer, aber mit einem klagenden Ausdruck im Gesicht. Ihr Maul war geöffnet, und die Hauer im Oberkiefer starrten unheilvoll aus dem schwarzen Schlund.

Der Schwanenhals des Methodisten schraubte sich so verwegen und pittoresk über alle andern Köpfe, daß Lenore nicht umhin konnte, seinen Eigentümer zu bemerken. Sie runzelte die Stirn und sah Daniel fragend an.

Sie schaute im Kreis herum und gewahrte überall Leute aus der Stadt, die sie teils mit Namen, teils von häufigen Begegnungen kannte. Ein Ladenfräulein aus der Ludwigstraße; einen pockennarbigen Kommis aus einer Kolonialwarenhandlung; die würdige Vorsteherin eines Kindergartens; einen Beamten von der Sparkasse; den Hutmacher von der Ecke am Marktplatz samt seiner verwachsenen Tochter; den Feldwebel, der stets salutierte, wenn er ihren Weg kreuzte.

Alle diese Leute waren im Sonntagsstaat und sahen sorglos und gutmütig aus. Aber sobald ihre Blicke sich gegen sie richteten, war etwas Böses in ihren Mienen. Die flackernden Flammen übermalten die Gesichter unheimlich, leichte Trunkenheit machte die trägen und schmutzigen Gedanken leserlich, und voll Sorge blickte Lenore zu Daniel auf, als müsse sie sich an seine größere Erfahrung und Überlegenheit wenden.

Es tat ihm leid um sie und leid um sich. Er wußte, was ihrer und seiner harrte. Sah er in die Höllenbreughelsche Versammlung, in der trotz Kneip- und Festtagslaune dunkle Gelüste jeder Art, verkrüppelte Leidenschaften, geheimnisvoller Neid und geheimnisvolle Rachgier etwas wie Blutgeruch verbreiteten, so konnte er sich keiner Täuschung hingeben über das, was ihnen bevorstand. Lenore zu schonen und zu schützen, eher von ihr zu lassen, als schuldig daran werden, daß das Kinderlächeln auf ihren Lippen erstarb, dies glaubte er im stillen sich und ihr versprechen zu können.

Die Arbeiterfamilie war aufgebrochen, und da es nicht mehr regnete, entfernten sich auch die meisten andern Gäste bald. In einem Raum über dem Saal wurde getanzt. Die Lampen klirrten, und man hörte nur das Brummen einer Baßgeige. Daniel schrieb mit dem Bleistift Noten auf den Tisch; Lenore beugte sich herzu, sah ihn fragend an und verfiel dann wieder, so wie er, in träumerisches Sinnen.

Keines trug nach den Worten des andern Verlangen; sie unterhielten sich stumm und wurden durch eine unwiderstehliche Gewalt innerlich zueinander hingezogen. Sie merkten nicht, daß es Abend wurde, daß der Saal sich indessen ganz geleert hatte, daß die Schankburschen die Gläser wegräumten, und daß schließlich auch die Tanzmusik verstummt war.

Wie in einer öden Höhle saßen sie Seite an Seite im halbfinstern Winkel, und als sie aus dem tiefen Schweigen emportauchten, blickten sie einander in die Augen, erst verwundert, dann in aufwallender Bestürzung.

»Was ist denn? was machen wir denn!« rief Lenore halblaut, »es ist spät, wir müssen heim.«

Der Himmel war umzogen, ein lauer Wind strich über die Ebene, auf der Landstraße standen breite Wasserlachen. Hie und da blitzte ein Licht aus der Dunkelheit, in fernen Dörfern schallte Hundegebell. Als die Chaussee in den Wald bog, reichte Daniel Lenore den Arm. Sie nahm ihn, ließ ihn aber bald wieder los. Daniel stockte im Schreiten und sagte fast zornig: »Sind wir denn verhext, alle beide? Sprich doch, Lenore.«

»Was soll ich denn sprechen?« erwiderte Lenore leise, »ich weiß nicht, was ich sprechen soll. Mir ist so bang; die Nacht ist so finster.«

»Dir ist bang? dir, Lenore? Du kennst eben nicht die Nacht. Um dich und in dir war's noch nie Nacht, und jetzt verstehst du vielleicht, wie's einem Nachtmenschen zumut ist.«

Sie antwortete nicht.

»Gib mir die Hand,« bat er, »ich will dich führen.«

Sie gab ihm die Hand. Bald sahen sie die Lichter der Stadt.

Er geleitete sie ans Haus, aber statt Abschied zu nehmen, schauten sie einander wieder mit verwirrten, suchenden, hilflosen Augen an, beide bleich und stumm.

Lenore eilte in den Flur, drehte sich bei der Stiege um und winkte lächelnd wie aus einem Nebel zurück. Mit geschnürter Kehle starrte er auf die Stelle, wo die schlanke Gestalt verschwunden war.


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