Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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10

Der Musikalienhändler Zierfuß hatte Karten zu einem Konzert geschickt. Daniel mochte nicht gehen, und so bat Gertrud ihre Schwester, daß sie mit ihr gehen solle. Daniel holte die beiden vom Konzert ab.

Da sagte ihm Lenore auf der Straße, daß sie am Nachmittag einen für ihn bestimmten Brief mit dem Londoner Poststempel bekommen habe.

»Von Benda?« fragte Daniel rasch.

»Die Schrift ist Bendas Schrift,« erwiderte Lenore. »Ich wollt ihn dir eben bringen, da hat mich Gertrud abgeholt. Warte vorm Haus, dann bring ich ihn herunter.«

»So iß mit uns zu Abend,« forderte Gertrud die Schwester auf und sah Daniel unsicher an.

»Wenns Daniel recht ist –?«

»Keine Flausen, Lenore, es ist mir recht,« sagte Daniel.

Eine Viertelstunde später saß Daniel bei der Lampe und las Bendas Brief.

Zuvörderst teilte ihm der Freund mit, daß er sich an einer wissenschaftlichen Expedition beteiligen werde, deren Arbeitsfeld das Kongogebiet sei und die sich gleichsam im Kielwasser der zur Aufsuchung Emin Paschas ausgerüsteten Stanleyschen Expedition halten werde.

»Dieser Brief ist also ein Abschiedsbrief, mein lieber Freund, es gilt einen Abschied für Jahre, vielleicht fürs Leben. Ich fühle mich wie neu geboren. Ich habe wieder Augen, und die Ideen, die mein Hirn hervorbringt, sind nicht mehr zum Erstickungstod im Morast der verbrüderten Sippe verurteilt. Die Arbeit im Laboratorium einer gigantischen Natur wird mich die erlittene Niedertracht und Ungerechtigkeit vergessen lassen; Hunger und Durst, Krankheit und Gefahren sind leichter zu ertragen als die Wirkungen jener zivilisierten Laster, die den Körper schonen, indes sie Seele und Geist verderben.«

Weiterhin hieß es: »An die Heimat binden mich nur noch zwei Menschen, meine Mutter und du. Vergegenwärtige ich mir dein Bild, so kommt eine stolze Stimmung über mich und jede Stunde, die wir zusammen verbracht haben, ist meinem Gedächtnis unverwischbar eingeprägt. Aber es gibt da einen heiklen Punkt, einen Gewissenspunkt; nenn es meinetwegen einen Span, nenn es, wie du willst, faß es auf, wie du willst, ich hab mich nun einmal donquichotisch festgerannt und muß den Posten verteidigen.«

Kopfschüttelnd las Daniel weiter. Von seiner Verheiratung wußte Benda noch nichts. Er schien sogar nicht einmal zu wissen, daß Daniel und Gertrud verlobt gewesen. Oder wenn er es gewußt hatte, schien er es vergessen zu haben. Oder wenn er es nicht vergessen hatte, schien ihm das Vergessen wünschenswert.

Daniel traute seinen Augen nicht, als er zu der Stelle kam: »Meine größte Angst war stets, du könntest an Lenore vorübergehen. Ich war zu feig, diese Angst zu äußern, und diese Feigheit hab ich mir ohne Unterlaß zum Vorwurf gemacht. Jetzt, da ich scheide, soll es nicht mit dem Gefühl eines Versäumnisses geschehn.«

Ums Himmelswillen, dachte Daniel, was tut er mir an!

»Ich habe es oft im Stillen bewundert, es war wie die Befriedigung bei einem chemischen Experiment, wenn die Reaktion der Stoffe sich in der erwarteten Weise vollzieht: was sie spricht, ist dein Wort, was du empfindest, ist ihr Gesetz.«

Er sieht Gespenster, bäumte sich Daniel auf, verwirrt mir meinen Faden. Wozu? wozu?

»Sei nicht achtlos! Zerstampf mir nicht die wunderbare Blüte! Das Mädchen ist von seltener Art, von der seltensten. Man braucht das ganze Herz mit seiner ganzen Güte, um sie zu ahnen und zu fassen. Kommen meine Worte aber zu spät, so zerreiß dieses Blatt und denk es aus deinem Geist und aus der Welt wieder fort.«

»Komm und iß, Lenore,« sagte Gertrud, die mit einer Schüssel voll marinierter Heringe ins Zimmer trat.

Lenore saß auf dem Sofa und blickte Daniel, der in Gedanken versunken war, forschend an.

Daniel schaute empor und betrachtete die beiden, als seien sie Gestalten einer Halluzination. Die eine im rostbraunen Kleid, die andere im dunkelblauen, wie Moll und Dur. Nebeneinander stehend beide, und doch so fern von einander, die Endpunkte seiner Welt.


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