Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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Erster Teil

Die Mutter sucht ihren Sohn

1

Die Landschaft hat vielfaches Grün; vom Rednitztal bis zum Taubertal hinüber ziehen sich tiefe Wälder, meist Nadelholz. Doch um die Dörfer ist in weitem Bogen alles bebaut, denn es ist uralter Kulturboden. An den zahlreichen Weihern steht das Gras höher, so hoch oft, daß man von den Gänseherden nur die Schnäbel gewahrt, und wäre das Geschnatter nicht, man könnte sie für wunderlich bewegte Blumen halten, diese Schnäbel.

Das Städtchen Eschenbach liegt ganz flach in der Ebene. Es ist ein übriggebliebenes Stück Mittelalter, aber die Fremden kennen es nicht, es ist stundenweit von jeder Bahnlinie entfernt. Ansbach ist die nächste Stadt im großen Ring des Verkehrs; um sie zu erreichen, bedient man sich der Postkutsche. So heute wie damals, als Gottfried Nothafft, der Weber, dort lebte.

Die Stadtmauern sind mit Moos und Efeu bewachsen; über den Graben führen noch die alten Zugbrücken durch baufällige runde Tore in die Straßen. Die Häuser haben Erker und weitvorspringende Firste, und ihr gekreuztes Balkenwerk sieht aus wie Muskelgeflecht.

Von dem Dichter, der einst hier geboren wurde und der das Lied vom Parzival sang, wissen die Leute nichts mehr. Vielleicht raunen in der Nacht die Brunnen von ihm, vielleicht wandelt sein Schatten manchmal im Mondschein um Kirche und Rathaus. Die Menschen wissen nichts mehr von ihm.

Das kleine Häuschen des Webers stand unweit vom Gasthaus zum Ochsen, ein wenig abgerückt von der Straße. Drei vertretene Stufen führten zum Tor, und sechs Fenster blickten auf den stillen Platz. Wer hätte denken sollen, daß der Geist der großen Industriewelt sich bis zu diesem verlorenen Winkel zerstörerisch eine Bahn schaffen würde!

Als Gottfried Nothafft im Jahre 1849 geheiratet hatte, seine Frau Marianne war eine von zwei Schwestern Höllriegel aus Nürnberg, hatte er sich noch auskömmlich zu ernähren vermocht. Sie wünschten sich beide ein Kind und jahrelang vergebens. Oft sagte Gottfried am Feierabend, wenn er auf der Bank vor dem Haus die Pfeife rauchte: »Wie schön, wenn wir einen Sohn hätten.« Da schwieg Marianne und senkte die Augen.

Später sagte er nichts mehr, weil er die Frau nicht beschämen wollte. Aber seine Miene verriet den Wunsch nur um so deutlicher.


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