Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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5

Gegen Ende des Sommers ereignete es sich, daß Philippine, Jason Philipps Tochter, ihrem siebenjährigen Brüderchen mit einem sogenannten Schnepper ein Auge ausschoß.

Die Geschwister spielten im Hof, Willibald, der ältere Knabe wollte den Schnepper haben, Philippine, die keinen Spaß verstand, riß ihn roh aus seinen Händen, drückte den Stein auf das elastische Band, schnellte ihn mit ziemlicher Kraft ab, der kleine Markus rannte dazwischen, ein Schrei ließ die ahnungsvolle Mutter von ihrem Zahltisch in den Hof stürzen, sie sah, wie sich das Kind auf der Erde wälzte, Jason Philipp lief, während Therese den Knaben in die Wohnung hinauftrug, zum Arzt, aber es nützte kein Eingriff mehr, das Auge war verloren.

Philippine hatte sich versteckt. Ihr Vater fand sie endlich unter der Kellerstiege. Er schlug sie so erbarmungslos, daß die Hausgenossen herbeieilten und ihm in die Arme fielen.

Der kleine Markus war Thereses Lieblingskind. Sie konnte das Unglück nicht verwinden. Was in ihrem Gemüt schon lang geschlummert, wurde nun beharrlicher Wahn; sie grübelte nach der Schuld.

Bisweilen erhob sie sich des Nachts aus dem Bett, zündete die Kerze an und schlurfte in ihren Pantoffeln durch die Zimmer. Sie leuchtete hinter die Öfen und unter die Schränke und drückte das Ohr lauschend an die Kammertür der Magd. Sie sah in den Mausfallen nach, und wenn sich eine Maus gefangen hatte, konnte sie sich von dem Anblick der unruhigen Angst des Tierchens nicht trennen.

Eines Tages wurde Jason Philipp von einem ihm bekannten Schreinermeister auf der Straße angehalten und gefragt, ob er keine alten Möbel zu verkaufen habe. Jason Philipp erwiderte, er wisse nichts von dergleichen ausgedientem Hausrat, schickte ihn aber gleichwohl zu Therese. Diese entsann sich, daß auf dem Dachboden seit vielen Jahren ein alter Sekretär stehe, für den man vielleicht ein paar Taler lösen könne, und ging mit dem Mann hinauf.

Sie stieß das kleine Holzfenster auf, und der Schreiner besah den Sekretär, der nur drei Füße hatte und morsch und verfallen war. »Dafür kann man nichts geben,« sagte der Schreiner und klopfte an dem Möbel herum wie ein Doktor an einer Leiche; »zwölf Groschen höchstens.«

Sie feilschten eine Weile und einigten sich schließlich auf sechzehn Groschen. Der Schreiner ging fort, nachdem er versprochen hatte, am Nachmittag einen Gesellen zu schicken. Therese war schon auf der Treppe, da fiel ihr ein, man müsse in den Schubfächern des alten Sekretärs nachsehen, ob nicht etwelche vergessene Schriftstücke darin seien, und sie ging wieder hinauf.

Im Staub einer Lade fand sie wirklich Papiere, und unter diesen Papieren lag die Quittung, die Gottfried Nothafft vor zehn Jahren Jason Philipp zurückgeschickt hatte. Und sie las im undeutlichen Licht die vertrauensvollen Worte des Verstorbenen, und sie sah, daß Jason Philipp dreitausend Taler bekommen hatte.

Sie las und sah und zerknitterte das Blatt. Sie schob es in die Schürzentasche und schrie auf einmal mit gellender Stimme: »Geh fort, Gottfried, geh fort!«

Sie ging hinunter und kam in die Küche, und bei der Anricht stehend, rührte sie mit dem Kochlöffel geistesabwesend in einer Schüssel, in der Eier auf Mehl geschlagen waren. Rieke, die Magd, erschrak vor ihr und bekreuzigte sich.


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