Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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12

Während alles im besten Zuge war, während man die Gebäude schmückte und die Zimmer des Herrenhauses instand setzte, traf die Nachricht vom Tod des Königs Ludwig ein. Die Zeitungen waren schwarz gerändert und brachten viele Einzelheiten über das Unglück am Starnbergersee. Wie überall im Land war die Trauer über das furchtbare Schicksal des Monarchen auch in der Familie des Herrn von Erfft aufrichtig und anhaltend.

Von einer Theateraufführung konnte natürlich die Rede nicht mehr sein; der Kanzler hatte seinen Besuch abgesagt, und die jungen Herrschaften, die sich gerade zur Probe versammelt hatten, kehrten still wieder heim. Herr von Erfft händigte Daniel eine beträchtliche Vergütung für die Musiker ein und bat ihn selbst, den er nicht wie einen Handlanger verabschieden wollte, noch ein paar Tage auf dem Gut zu bleiben.

Daniel weigerte sich nicht, hatte er doch bis jetzt mit keinem Gedanken überlegt, wohin er seine Schritte lenken sollte.

Nachdem er das Geschenk des Herrn von Erfft unter die Musiker verteilt und die Leute entlassen hatte, wanderte er in den Wald. In einem Dorfe verzehrte er ein karges Mittagsmahl und schweifte dann umher, bis es Abend wurde. Als er zurückkehrte, saßen seine Wirte noch um den Tisch. Er versäumte es, sich zu entschuldigen, Frau Agathe lächelte ihrem Gatten belustigt zu und gab Befehl, daß dem Herrn Kapellmeister nachserviert werde; Silvia hatte ein Buch in der Hand und las.

Ziemlich bedrückt nippte Daniel nur von den Speisen, und als die Hausfrau sich erhob und durchs Fenster in den gewitterigen Himmel schaute, ging er ins Nebenzimmer und setzte sich an den Flügel.

Er begann zu spielen. Es war Schuberts Lied an Silvia. Als die stürmisch-innige Melodie verhallt war, knüpfte er eine Variation daran, hierauf eine zweite, eine dritte, eine vierte; schwermütig die eine, jubilierend die andere, sinnend die dritte, schwärmerisch suchend die vierte. Jede war ein Hymnus an das Vergessene.

Herr von Erfft und Agathe standen in der offenen Türe, Silvia hatte sich unfern von ihm auf ein Taburett gesetzt und blickte in anmutiger Entrücktheit zu Boden.

Er brach jäh ab, als wolle er damit Beifall und Dank verhindern, Sylvester von Erfft nahm ihm gegenüber Platz und fragte freundlich, ob er für die nächste Zeit bestimmte Pläne habe.

»Ich gehe nach Nürnberg zurück und werde heiraten,« sagte Daniel. »Ich habe eine Braut. Sie wartet auf mich. Schon lange.«

Ob er nicht die frühzeitige Ehefessel fürchte? erkundigte sich Herr von Erfft, aber Daniel entgegnete kurz, er brauche einen Menschen zwischen sich und der Welt.

»So etwas wie einen Puffer,« warf Frau Agathe spöttisch hin. Daniel schaute ihr unwillig ins Gesicht.

»Puffer? nein, oder doch, wenn ein Schutzengel einen vor Püffen bewahrt,« sagte er noch barscher.

»Weshalb wollen Sie sich gerade in Nürnberg niederlassen, einer Stadt von so einseitig kommerzieller Richtung?« fuhr Herr von Erfft mit fast ängstlicher Behutsamkeit zu fragen fort. »Würde Ihr Leben nicht in einer der großen Metropolen der Kunst gesicherter sein?«

»Es geht nicht an, den Vater von seiner Tochter ganz zu trennen,« antwortete Daniel plötzlich mit unerwarteter Offenheit. »Es geht nicht an. Auch kann man den alten Mann nicht mehr aus seiner Umgebung reißen; dort ist er nun einmal verwachsen. Und ich will nicht länger allein bleiben. Irgendein Herz braucht jeder, und der Bergmann gräbt leichter im Schacht, wenn er weiß, daß droben sein Weib die Suppe kocht. Auf die Suppe bin ich freilich nicht versessen, auf das Seelchen nur, das Seelchen, das einem gehört.«

Er drehte sich um und schlug breit einen Moll-Akkord an.

»Und wäre auch alles anders,« begann er wieder und zog das Gesicht in bizarre Falten, »mich zög's nicht nach Ihren Metropolen. Was wäre dort zu suchen? Kameraderien? Hab genug davon erfahren. Am Handwerk lern ich zu Hause. Ich kann die Meister aller Zeiten in meine Stube bitten. Ruhm und Geld finden den Weg zu mir, wenn sie wollen. Die Morgenröte wird nur von den Schläfern übersehen und echte Musik nur von den Tauben überhört. Das übrige steht bei Gott und nicht bei den Menschen.«

Zum zweitenmal schlug er den Akkord an, jetzt in Dur.

Mit sichtlicher Freude und Teilnahme ruhten die Blicke des Herrn von Erfft und seiner Frau auf ihm. Silvia flüsterte ihrer Mutter etwas zu, diese nickte und sagte zu Daniel: »Eine meiner Schwestern lebt in Nürnberg, die Freifrau Clotilde von Auffenberg. Sie war von Jugend an eine enthusiastische Verehrerin guter Musik, und wenn ich Ihnen einen Empfehlungsbrief an sie mitgebe, würden Sie gewiß mit offenen Armen aufgenommen. Freilich ist sie kränklich, und ein schweres Verhängnis schwebt über ihrem Leben, aber sie hat Herz und ist verläßlich in ihren Neigungen.«

Daniel sah vor sich nieder. Er dachte an Gertrud und an die Zukunft mit ihr und murmelte ein paar Worte des Dankes. Frau von Erfft setzte sich gleich an den Schreibtisch und schrieb einen ausführlichen Brief an ihre Schwester. Als sie fertig war, überreichte sie ihn Daniel mit gütigem Lächeln.

Am andern Morgen verließ er Schloß Erfft mit dem Bedauern, mit dem man von einem Wohnsitz des Friedens und von edlen Freunden scheidet.


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