Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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8

Kurze Zeit nach dem Tod Gertrud Nothaffts war Eberhard von Auffenberg in die Stadt zurückgekommen. Die letzte große Summe, die er ein Jahr zuvor von Herrn Carovius erhalten hatte, war nahezu aufgebraucht. Er fand Herrn Carovius in seinem Betragen ihm gegenüber bedeutend verändert. Herr Carovius erklärte, daß er ruiniert sei und kein Geld mehr aufbringen könne. Statt zu wehklagen oder zu prahlen oder seinen freiherrlichen Freund zu umschmeicheln und anzustacheln, wie er sonst getan, hüllte er sich in ein Schweigen, das nichts Gutes hoffen ließ.

Eberhard hatte nicht Lust, zu bitten. Die Person des Herrn Carovius war ihm zu verächtlich, als daß er Betrachtungen hätte über ihn anstellen mögen. Seine Gedanken gingen andre Wege.

Der Klatsch, der über Lenore im Schwung gewesen, war natürlich auch zu ihm gelangt. Herr Carovius hatte es an Andeutungen, brieflichen wie mündlichen, nicht fehlen lassen. Jedoch Eberhard hatte sie ignoriert. Unglimpf, der sich an Lenore wagte, hatte ihm nicht glaubhafter gedünkt als Straßenschmutz am strahlenden Mond.

Eines Tages mußte er eines Wechselprotestes halber Herrn Carovius aufsuchen. Sie besprachen die Angelegenheit ganz trocken und geschäftlich, plötzlich fixierte Carovius den Freiherrn mit durchdringendem Blick, wanderte sodann in seinem Schlafrock beständig um den Tisch herum und fing an, sich über das schreckliche Ende von Daniel Nothaffts junger Frau zu verbreiten.

Er geriet in eine unbegreifliche Aufregung. »Nun wird aber das Kapellmeisterlein hoffentlich zur Vernunft kommen,« schrie er mit seiner Fistelstimme. »Am Hungertuch nagt er sowieso schon. Bergab geht's, bergab. Man wird sammeln müssen für das verkannte Genie. Eine ist dabei hin geworden; die andere zappelt noch. Wie gefällt Ihnen der zappelnde Engel, Baron? Tut's Ihnen nicht leid um den netten Heiligenschein, der wie alter Trödel an einer ehebrecherischen Bettstatt hängt? Freilich, dem Genie ist ja alles erlaubt. O, Lenore! Verfratzte Lüge, die du bist, heuchlerische duckmäuserische Lüge!«

Ganz gelassen schritt Eberhard auf den entfesselten Dämon im Schlafrock zu, packte seine Kehle und drückte sie mit eisernem Griff derart zusammen, daß Herr Carovius in die Knie brach und im Gesicht blau wurde wie ein gesottener Karpfen. Später war er merkwürdig still; er verkroch sich. Bisweilen kicherte er einfältig, bisweilen schoß ein giftiger Blick unter fernen Lidern hervor.

Eberhard goß Wasser in ein Becken, tauchte die Hände hinein, trocknete sie und ging fort.

Das Bild des winselnden Menschen mit den herausgequollenen Augen und dem blauen Gesicht war unverwischbar. Er hatte die Wollust des Mordens gespürt; ihm war gewesen, als richte und strafe er nicht nur seinen Peiniger und Verfolger, sondern zugleich den heimlichen Feind der Menschheit, den Erzbösewicht, den hämischen Zerstörer aller edlen Saat.

Desungeachtet hatte der exaltierte Ausbruch des Herrn Carovius gerade diejenige Wirkung, die Eberhard am wenigsten erwartet hatte. Sein Vertrauen in die Schuldlosigkeit Lenores war plötzlich erschüttert. Vielleicht war bei aller feigen Verleumderwut ein Etwas in Herrn Carovius' Stimme aufgeklungen, das wahrer zeugte, als der Elende selbst es ahnte, und Eberhard erblickte in dieser Stunde die angebetete Gestalt zum ersten Male als Gleichgeartete unter den Menschen und erfuhr das Geschehene wie durch ein Ferngesicht.

Seine Illusionen waren vernichtet.

Entsagt hatte er in seinem Innern schon längst. Seine leidenschaftlichen Wünsche von ehemals hatten einen Verblutungsprozeß durchgemacht. Er hatte gelernt, sich ins Unabänderliche zu fügen; er hatte darum gerungen. Wenn er das Leben überschaute, das er in den vergangenen fünf Jahren geführt, so glich es trotz seiner Unstetheit und dem fortwährenden Wechsel der Städte und Länder dem Aufenthalt in einem Raum mit geschlossenen Läden.

Als er in die Stadt zurückgekommen war, die er nur deshalb liebte, weil sie Lenore beherbergte, hatte er nicht die Absicht gehabt, Lenore an die abgelaufene Frist zu mahnen. Es wäre ihm geschmacklos erschienen, neuerdings als lästiger Bewerber aufzutreten und das Garn dort wieder anzuknüpfen, wo es vor fünf Jahren gerissen war. Er hatte sich vorgenommen, Lenore in keiner Weise zu beunruhigen. Aber zu ihr gehen, mit ihr zu sprechen, das war die lichtvolle Hoffnung in all den öden Jahren gewesen.

Nach dem Vorfall mit Herrn Carovius hatte er den Entschluß gefaßt, Lenore aus dem Weg zu gehen.

Seine Barmittel waren auf wenige hundert Mark zusammengeschrumpft. Er entließ seinen Diener, veräußerte einen Teil seiner Schmucksachen und mietete sich in einem der winzigen Häuschen ein, die gegenüber den Felsen, auf denen die Burg steht, wie Wespennester eins am andern kleben. Das betreffende Häuschen hatte vordem ein Pfragnersehepaar bewohnt, und es war mitsamt seinen drei Kammern nicht viel geräumiger als ein mittlerer Tierkäfig in einer Menagerie. Doch er hatte sich's in den Kopf gesetzt, dort oben zu residieren. Er kaufte sich einige alte Möbel und schmückte die krummen Wände der altertümlichen Baracke mit den Bildern, die er besaß.

Eines Abends wurde an die grüne Tür des Häuschens gepocht. Eberhard öffnete und sah Herrn Carovius vor sich stehen.

Herr Carovius trat in die puppenhaft kleine Wohnstube des Freiherrn, schaute sich verwundert um und sagte schließlich, ganz bleich: »Straf mich Gott, aber mir scheint, Sie wollen hier den Eremiten spielen. Daraus wird nichts, lieber Baron, das ist kein Quartier für einen Edelmann, die Schande laß ich nicht auf mir sitzen, das kann nicht sein, das dürfen Sie mir nicht antun.«

Eberhard griff nach dem Buch, in dem er gelesen, einem Band von Carl du Prels Schriften, und las weiter, ohne zu antworten und ohne auf die Gegenwart des Herrn Carovius zu achten.

Herr Carovius trippelte von einem Fuß auf den andern. »Vielleicht geruhen Euer Gnaden, dero Konto in Augenschein zu nehmen,« sagte er mit sonderbar flehentlichem Hohn. »Ich bin in einer bösen Klemme. Das Kapital futsch und eine Zinsenschuld, die anschwillt wie die Pegnitz im Frühjahr. Wollen Sie wissen, wovon ich seit drei Monaten lebe? Von Rüben lebe ich, von Wurstabfällen, von Backsteinkäse. Alles für Sie, alles für meinen Baron.«

»Es interessiert mich nicht, wovon Sie leben,« erwiderte Eberhard hochmütig und las weiter.

Herr Carovius fuhr mit einem albernen Ausdruck von Schmollen fort: »Wie Sie neulich von mir weggegangen sind, nach dem kleinen Zank, den wir wegen dem Gänsemännchen hatten, da dacht ich nicht, daß Sie blutigen Ernst machen würden. Was sich liebt, das neckt sich, dacht ich mir. Kommst schon wieder, Barönlein, dacht ich, kommst so sicher wie's Lachen auf's Kitzeln. Na, ich habe mich geirrt. Habe Sie für sanftmütiger gehalten, für nachsichtiger mit einem alten Freund. Man irrt sich eben.«

Eberhard blieb stumm.

Nun seufzte Herr Carovius und setzte sich schüchtern auf das schmale Kanapee, das an der gelbgetünchten Mauer stand. Fast eine Stunde lang saß er schweigend da und Eberhard empfand weder das Lächerliche noch das Unheimliche in diesem Schweigen und in dem Benehmen seines Gastes. Er las.

Auf einmal zog Herr Carovius seine Brieftasche aus dem Rockfutter, klappte sie auf, nahm mit zitternden Fingern einen Tausendmarkschein heraus, legte ihn nebst einem Quittungsformular mit einer hastigen Gebärde auf das Blatt, über welches Eberhards Auge glitt, und ehe sich der Freiherr von seinem Erstaunen erholt hatte, war er bereits verschwunden, hatte die Haustür zugeschlagen und von der Gasse tönte sein geschwindes Trippeln in die Stube.

Was für seltsame Lebendige hast du, Welt, und was für seltsame Tote, ging es Eberhard durch den Sinn.


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