Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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6

Es liegen in den Goetheschen Versen, die den Titel »Harzreise im Winter« führen, Gedanken wie Felsblöcke und Empfindungen so schauerlich und groß wie das Flammen aufgehender Sternenwelten. Die ungeheure Schmerzgewalt, die ungeheure Erhabenheit schien sich in Daniels Werk wie von selbst in Musik verwandelt zu haben.

Wenn in der zweiten Hälfte die Motive von Menschenstimmen übernommen wurden, diese Stimmen erst einzeln aus dem brodelnden Tonmeer drängten, dann immer williger, sehnsüchtiger, offenbarender sich zum Chor sammelten, war es, als müßten sie ohne diese Befreiung in der Finsternis ersticken.

Erschütternd klang das Pianissimoraunen der Bässe, bevor der Sopran einsetzte: dem Geier gleich, der auf schweren Morgenwolken mit sanftem Fittich ruhend nach Beute schaut, schwebe mein Lied; ein Siegesruf war das Posaunensolo, das dem versunkenen Orchester neues Leben wies.

Daniel hatte große Mühe, dies alles durch Gesang, Wort und Gebärde neben seinem Spiel begreiflich zu machen.

Das Werk war voll von den Brechungen und Halbtönen, die es trotz des strengen Baues zum Kinde seiner Zeit, und mehr noch einer werdenden Zeit, stempelte. Es hatte keinerlei erschlossene Süßigkeit; es war rauh wie die Rinde der Bäume, wie alles, was mit der Zuversicht innerer Dauer geschaffen wird.

Sein Rhythmus war einförmig, nur auf Steigerung berechnet. Es hatte nichts von Verführung, nichts von Tanzgelüsten, keine Billigkeit, nichts was trägem Ohr schmeichelt. Keinen Schmelz, nur Fülle und Äußerstes; die Melodie verborgen wie der Kern in harter Schale und nicht bloß verborgen, sondern zerteilt und immer wieder zerteilt; hinabgepreßt, unterirdisch gebunden, um nur ein einziges Mal überwältigend emporzusteigen, emporzujubeln: Aber den Einsamen hüll' in deine Goldwolken! umgib mit Wintergrün, bis die Rose wieder heranreift, die feuchten Haare, o Liebe, deines Dichters!

Es war um fünfundzwanzig Jahre zu früh geboren. Es hatte keine Beziehung zu den Nerven seiner Umwelt; es konnte auf keinen Verkündiger, keinen Versteher zählen, nicht weiter getragen werden durch das Wohlwollen Gleichfühlender; das Merkmal tödlicher Verlassenheit haftete ihm an; es glich einem tropischen Vogel, der an der Eisküste Grönlands ausgesetzt worden ist.

Aber für die herzlich Nahen ist ein Fluidum in der Luft, das die höhere Wahrheit vermittelt. Monsieur Rivière und Lenore saßen kaum atmend da. Lenores große Augen waren unendlich still und schlossen und öffneten sich langsam. Als Daniel zu Ende war, mit dem Taschentuch die nasse Stirn trocknete und dann die Arme schlaff hängen ließ, war es ihm, als ob der Glanz ihrer Augen bis an seine Haarspitzen dringe und sie elektrisiere.

Umgib mit Wintergrün, bis die Rose wieder heranreift, die feuchten Haare, o Liebe, deines Dichters.

»Man kann keine Vorstellung davon geben,« murmelte Daniel, »das Klavier ist wie ein spanischer Stiefel.«

Da vernahmen sie aus dem Wohnzimmer eigentümliche Laute. Sie gingen hinein und sahen Gertrud, die sehr bleich war und mit über der Brust gekreuzten Händen auf dem Sofa saß und halb wie aus dem Traum, halb wie eine Betende vor sich hinredete. Man konnte nicht verstehen, was sie sagte; sie schien abgewandt und fern.

Lenore eilte zu ihr hin, Daniel betrachtete sie düster, indessen läutete es draußen und Monsieur Rivière ging hinaus. Eine gilfende Männerstimme erschallte, die Tür wurde aufgetan, und Herr Carovius trat ein.


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