Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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10

Daniels Mutter war gekommen; sie hatte die kleine Eva mitgebracht.

Aus der Zeitung hatte Marianne den Tod Lenores erfahren; niemand hatte ihrer gedacht, niemand hatte an sie geschrieben. Und in der Zeitung hatte nicht einmal sie selbst es gelesen, sondern der Eschenbacher Doktor, der auf den Fränkischen Herold abonniert war, hatte ihr eines Morgens das Blatt gereicht und zaghaft auf die Todesanzeigen gewiesen.

Das Begräbnis hatte sie versäumt. Sie ging aber auf den Kirchhof und betete an Lenores Grab.

Daniels Verlust begriff sie ganz. So wie sie ihn antraf, so hatte sie sich vorgestellt, daß er sein würde. In der Maßlosigkeit seines Schmerzes, in der stummen Verzweiflung erkannte sie ihren Sohn, er war ihr näher dadurch als irgendwann vorher. Sie würdigte diesen Schmerz, sie hatte nicht das Bedürfnis, ihn zu verringern oder abzulenken. Sie schwieg, wie Daniel selber schwieg und legte bloß bisweilen die Hand auf seine Stirn. Da murmelte er: »Mutter, ach Mutter!« Und sie antwortete: »Laß nur; acht' nicht meiner.«

Sie sagte sich: Wenn eine Lenore dahingehen muß, in der Jugend Blüte, dann muß man trauern, bis die Seele von selber wieder hungrig wird nach Leben.

Eva hatte anfangs versucht, mit ihrem Stiefschwesterchen zu spielen, wurde aber von Philippine stets aus dem Zimmer gejagt. Einmal kehrte sie sich gegen die Wütende und rief aus: »Ich werd's meinem Vater sagen.«

»So? Deinem Vater? Sag's ihm nur, deinem Vater,« versetzte Philippine höhnisch. »Wer is er denn, dein Vater? Was is er, wo is er? Im Pommerland vielleicht?« Und sie fügte singend hinzu: »Pommerland is abgebrannt – Maikäfer flieg!«

»Mein Vater? der ist doch da; drinnen ist er,« erwiderte Eva verwundert und gekränkt; »bist ja in seinem Haus. Und das Agneslein ist ja meine Schwester.«

Philippine riß Mund und Augen auf. »Dein Vater – ist drinnen –?« stotterte sie, »und das Agneslein – deine Schwester –?« Sie erhob sich, packte Eva roh an der Schulter und zerrte sie mit sich über den Flur in die Stube, wo Marianne und Daniel waren. Mit einem Lachen, das irr klang, und einem Ausdruck von Frechheit und Raserei im Gesicht keuchte sie: »Der Balg behauptet, Daniel wär sein Vater und das Agneslein seine Schwester. So ein hundsföttischer Balg!«

Voll Schrecken stand Marianne auf und eilte zu Eva hin, die bleich, das Gesicht von Tränen überströmt, die Arme nach ihr streckte. »Loslassen!« befahl sie. Philippine ließ das Kind los und wich zurück. Ist's denn wahr?« lispelte sie plötzlich furchtsam, »ist's denn wahr?«

Marianne kniete auf dem Boden und hob ihr Pflegekind empor. »Geh deiner Wege, du Racker,« sagte sie finster zu Philippine.

»Daniel?« machte Philippine fragend, mit aufgehobenen Händen zu Daniel gewandt, und wieder: »Daniel?« So, als wolle sie ihn auffordern, zu sprechen, als wolle sie ihm vorwerfen, daß er sie betrogen. Es hatte einen unheimlichen Ton, dies fragende: Daniel, Daniel.

»Geh zu deinem Agneslein,« antwortete Daniel gequält. Er fühlte sich je länger, je mehr in Philippinen Schuld; und jetzt gar, was sollte er beginnen ohne sie, die die einzige Hüterin seines Kindes war. Die Mutter konnte nicht in der Stadt bleiben, sie hatte draußen ihr Brot, und Eva wuchs bei ihr in Frieden auf. Das Agneslein durfte man Philippine nicht rauben, auch wenn es die Mutter hätte übernehmen wollen; an dem Kind hing Philippine mit einer richtigen Affenliebe. Auch für den alten Jordan war Philippine unentbehrlich; Daniel konnte ihm nicht die Stube aufräumen, konnte nicht für sein Essen sorgen.

Und Philippine ging hinaus. »Der Luderskerl,« sagte sie vor der Türe und ballte die Faust, »der Luderskerl! Noch ein Bankert hat er, der Luderskerl! Wart nur, Bankert! Dir kratz ich die Augen aus.«

Das in sich hineinschluchzende Kind auf dem Schoß haltend, saß Marianne neben Daniel. »Tu nicht weinen, Eva,« tröstete sie, »bald fahren wir wieder heim.«

Da schaute Daniel seiner Mutter aufmerksam ins Gesicht, und er erzählte ihr, wie Philippine ins Haus gekommen sei; und erzählte ihr den Betrug Jason Philipps und wie die eigene Tochter den Vater verraten hatte; erzählte ihr, daß sein Vater dreitausend Taler zu Jason Philipp getragen und daß Jason Philipp damals, als der alte Jordan in der schlimmen Not wegen seines Sohnes gesteckt, einen Teil des Geldes hergegeben und daß er, Daniel, auf das übrige verzichtet habe.

Mariannes Kopf sank tief auf ihre Brust. »Dein Vater war ein wunderbarer Mann, Daniel,« sagte sie nach langem Schweigen, »aber auf die Menschen hat er sich nicht verstanden, und sein Weib hat er erst recht nicht gekannt. Er war wie einer, der blind ist und das Blindsein verhehlen will und geht und nicht weiß, wohin und steht und nicht weiß, wo. Kommst mir auch oft so vor, Daniel. Mach die Augen auf! Bitt dich, Daniel, mach die Augen auf!«

Das Kind in ihrem Schoß war eingeschlafen. Als Daniel in Evas Gesichtchen blickte (ja, er machte die Augen auf), als er dies zarte, süße, holdwehe Antlitz der Schläferin so dicht vor sich sah, vermochte er nicht mehr an sich zu halten, er drehte sich gegen die Wand und schrie, wie wenn es ihm das Herz zerrisse: »Ich bin ein Mörder!«

»Nein, Daniel,« sagte Marianne leise; »oder jeder, der lebt, ist an jedem Toten ein Mörder gewesen.«

Aber Daniel krümmte sich in seinem Schmerz und seine Zähne knirschten.

»Drinnen ist der Vater,« flüsterte Eva im Traum.


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