Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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Seit neun Jahren war der Rokokosaal im Auffenbergschen Haus festlichen Veranstaltungen jeder Art verschlossen gewesen. Es hatte eines langwierigen Briefwechsels zwischen dem Sekretär des in Rom weilenden Freiherrn und dem Sekretär der Freifrau bedurft, um die Erlaubnis zur Benützung des Saales von jenem zu erlangen.

Die Entrüstung über das Nothafftsche Werk war allgemein. Die Leute aus der Gesellschaft wußten sich nicht zu fassen, und die als Liebhaber und auf Empfehlung Geladenen waren gleichfalls wenig erbaut. Das Hauptvergnügen hatte darin bestanden, den Komponisten dirigieren zu sehen. Der Anblick des zappelnden, hopsenden Gesellen hatte den Konsistorialrat Zöllner vor Lachlust beinahe zum Bersten gebracht.

Der alte Graf Schlemm-Nottheim, der nicht nur eine Vorliebe für pornographische Literatur besaß, sondern auch jeden Nachmittag einen Viertelliter von Doktor Rosas Lebensbalsam trank, erklärte, das Unisono sämtlicher Schaubudeninstrumente auf dem Jahrmarkt sei eine musikalische Offenbarung gegen solche Katzenmusik; der Oberlandesgerichtsrat Braun sprach unverhohlen von einer Verschwörung wider den guten Geschmack.

Dies wurde in den Ecken ausgemacht. Um die Freifrau nicht zu beleidigen, spendeten alle ziemlich lebhaft Beifall. Dann vereinigten sich Zuhörer und Mitwirkende an einer riesigen Hufeisentafel zum Diner.

Graf Schlemm-Nottheim war der Tischherr der Freifrau und erkundigte sich bei ihr nach den verschiedenen Persönlichkeiten der Kunstwelt. Er fragte, wer die interessant schwermütige Dame neben dem Major Bellmann sei? Es sei die Frau des Komponisten. Die Frau? gar nicht übel, diese Frau; damit ließe sich leben, in der Tat. Und wer sei die dort, zwischen dem alten Herold und dem Franzosen? ein entzückendes Geschöpfchen; die habe ja Augen wie das ligurische Meer und Händchen wie eine Prinzessin. Das sei die Schwester der Frau. Die Schwester? ei, der Kuckuck, eine prächtige Familie, der Unterstützung nicht unwürdig.

Es wurden Trinksprüche ausgebracht. Der Fabrikant Ehrenreich ließ den Schöpfer der »Harzreise« leben; der Graf die anwesenden Frauen.

Peinliches Aufsehen erregte Herr Carovius. Er saß bei den Herren vom Gesangverein »Liedertafel«, die im Chor mitgesungen hatten, und sie schämten sich seiner. Denn er benahm sich ungeziemend.

Es war ihm gelungen, einen Handschuh, den Lenore verloren hatte, unbemerkt aufzuheben und in seine Tasche zu stecken. Vielleicht war er deshalb von so geräuschvoller Lustigkeit. Er warf dem Fräulein Varini eine Krachmandel zu, die er vom Tafelaufsatz genommen hatte. Er ließ den feuchtseligen Blick über den Kristall-Lüster und die mit Goldleisten verzierten Wände schweifen und wurde nicht müde, den Glanz und den Reichtum des Hauses zu preisen, so, als ob er selbst zum Hause gehöre. Er hob das Weinglas und äußerte sich verzückt über Farbe und Blume des Getränks, so, als ob er die Weine des Hauses aus langer Erfahrung kenne.

Da geschah es aber, daß er bei einer heftigen Bewegung seinen Teller umstülpte, und über seine weiße Weste floß ein Bach von braunem Bratensaft. Er verstummte. Er versank in sich selbst. Er tauchte die Serviette ins Wasser und rieb und rieb. Die Lakaien kicherten. Er schloß seinen Gehrock zu und glich einem Auslagefenster in tiefer Nacht.

Noch ein anderes Phänomen bot sich den spöttischen Augen der Lakaien. Sie bemerkten, daß der Kapellmeister Nothafft in bloßen Strümpfen an der Tafel saß. Die neuen Lackstiefel hatten ihn so unleidlich gedrückt, daß er kurzen Prozeß gemacht und sich ihrer während des Essens entledigt hatte. So standen sie herrenlos, einer rechts von seinen Füßen, einer links. Wenn die Lakaien vorübergingen, schauten sie unter den Stuhl und preßten grimmig die Lippen aufeinander, um nicht herauszuplatzen.

Der grobe Verstoß gegen den Anstand blieb auch den Nachbarn nicht verborgen. Es wurde getuschelt und gelächelt, Achseln wurden gezuckt, Köpfe geschüttelt. Da sich nun Daniel beim allgemeinen Aufstehen von der Tafel gar keine Mühe gab, seine Stiefellosigkeit zu verschleiern, sondern die lackledernen Quälgeister ohne Rücksicht auf die erstaunten Zuschauer unbekümmert wieder an seinen Extremitäten befestigte, hatte er verspielt, hatte er gründlich verspielt.

Die Kunde der außerordentlichen Begebenheit wurde in den nächsten Tagen, reizvoll ausgeschmückt, von Haus zu Haus weitererzählt, drang aus den hohen Regionen in die niedrigen und erregte Stürme von Gelächter. Niemand wußte etwas über die Symphonie zu sagen, dafür war jeder aufs genaueste mit den Einzelheiten der Lackstiefel-Episode bekannt.


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